Der nasse Fisch
einmal, wie Dr. M. überhaupt aussah.
Genau deswegen war er ins Präsidium gefahren und stiefelte jetzt die Treppen hoch. Ganz oben in der Burg residierte die Inspektion I,
und dort saß der Erkennungsdienst, kurz ED genannt. Doch in der Verbrecherkartei war nichts über einen Johann Marlow zu finden.
Weiße Weste. Der Mann hatte tatsächlich keine einzige Vorstrafe, keine einzige Aktennotiz, er war nicht einmal bei Rot über
den Potsdamer Platz gefahren. Dasselbe galt für Alexej Iwanowitsch Kardakow. Der hatte seinen Kokshandel bislang erfolgreich
vor der Berliner Polizei verbergen können. Damit erübrigte sich auch der Besuch bei den Kollegen vom Rauschgiftdezernat, Rath
ging gleich ins Erdgeschoss.
Doch die Passbüros im Westflügel waren alle verschlossen. Sonntag. Kein Publikumsverkehr. Aber soweit er wusste, wurde auch
im Passamt sonntags gearbeitet, wenigstens mit kleiner Besetzung. Er klapperte alle Türen ab und hatte Glück: Als er um die
Ecke bog und die Zwischentür zum Nordflügel öffnete, sah er einen grauhaarigen Beamten, der sich schon in seinen Mantel geworfen
hatte. Der Alte wollte seine Bürotür gerade abschließen.
»Feierabend«, sagte er, als Rath ihn ansprach. »Ein Uhr.«
»Na kommen Sie! Die Kriminalpolizei arbeitet heute auch! Die Verbrecher halten sich nicht an Dienstzeiten.«
»Ich muss auch noch ins Formularmagazin.«
»Können Sie ja. Ich brauch nur eine kleine Adressauskunft.«
Der Grauhaarige seufzte. Der Schlüssel drehte sich wieder in die andere Richtung.
»Na, denn hoffe ich aber, die Kripo tut mir auch mal einen Gefallen, wenn ich einen brauche.« Der Mann führte ihn in ein ordentlich
aufgeräumtes Büro und kramte ein Brillenetui aus seiner Manteltasche. Hinter einer niedrigen Holzschranke, die sonst die gewöhnlichen
Bürger auf Distanz hielt, standen akkurat aufgereiht Schreibtische, Regale und Karteischränke. »Für welche Inspektion arbeiten
Sie denn?«, fragte der Beamte.
»Die E.«
Der Alte taxierte ihn kurz über die Lesebrille, die er gerade aufgesetzt hatte.
»Welcher Buchstabe?«
Rath hätte fast noch einmal »E« gesagt, bis ihm klar wurde, was der Mann meinte.
»K«, sagte er nur.
Der Beamte öffnete geräuschvoll einen Rollschrank.
»Und im ganzen Wort?«
»Kardakow.«
Der Mann hatte bereits eine Schublade herausgezogen und fing an zu suchen.
»Alexej Iwanowitsch Kardakow«, ergänzte Rath, in der Hoffnung, dem Passbeamten damit einen Gefallen zu tun.
Der hörte jedoch schlagartig mit seiner Suche auf.
»Das hört sich aber nicht nach einem deutschen Namen an«, sagte er.
»Nein. Kardakow ist Russe.«
Der Beamte verdrehte die Augen. Er schlug die Schublade wieder zu, schloss den Rollschrank und klimperte geräuschvoll mit
dem Schlüsselbund. »Hätten Sie das nicht gleich sagen können?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »Kommen Sie mit.«
Er führte Rath durch drei weitere Büros, die alle so aussahen wie das erste.
»Zimmer 152. Die Passstelle des Fremdenamtes«, sagte der Mann, als sie im vierten Büro angekommen waren. Den Rest kannte Rath
bereits. Rollschrank, Schublade, Suchen. Es dauerte gar nicht mal lange. Der Passbeamte zog eine Kartei aus der Schublade.
»Da haben wir ihn ja … Kardakow, Alexej Iwanowitsch. Geboren am 25. Juli 1896 in Sankt Petersburg, Russland, gemeldet in Berlin
seit dem 15. Dezember 1920 …«
»Die Adresse brauche ich!«
»Immer mit der Ruhe, junger Mann.« Wieder ein vorwurfsvoller Blick über den Brillenrand. »Gemeldet in Berlin seit dem 15.
Dezember 1920 …«, wiederholte der Mann mit einer Gemütsruhe, die Rath fast wahnsinnig machte. Das war genau der Typus des
preußischen Beamten, den man bei der Polizei nicht gebrauchen konnte. »… wohnhaft in der Nürnberger Stra…«
»Nein, das ist seine alte Adresse.«
»Lieber Herr Kommissar! Warum behelligen Sie mich eigentlich, wenn Sie sowieso schon alles wissen?«
»Entschuldigen Sie, aber der Mann ist vor einem Monat da ausgezogen.«
Der Beamte überflog das Blatt. »Davon steht hier nichts. Kardakow hat seit gut drei Jahren diese Adresse.« Er warf noch einen
Blick auf das Papier. »In einer Woche muss er seinen gelben Personalausweis verlängern, das müssen Ausländer jedes halbe Jahr.
Dann wird er seinen Umzug wohl bei dieser Gelegenheit angeben. Vielleicht kommen Sie dann noch einmal wieder. Am 16. Mai könnte
ich Ihnen mehr sagen.«
»Vielen Dank, Sie waren mir eine große Hilfe«, sagte
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