Der nasse Fisch
Massenabfertigung. Glauben Sie mir, eine Maileiche zu untersuchen wäre für uns einfacher,
der Hergang ist in den meisten Fällen leicht zu ermitteln. Auch wennman sich damit im Kollegenkreis wohl keine Freunde machen würde.«
»Warum das?« Er schaute sie fragend an.
»Lassen Sie es mich so ausdrücken: Offensichtlich sind bei den Kämpfen zu viele Polizeikugeln abgefeuert worden. Und zu wenig
Kommunistenkugeln.«
Sie schien gut informiert zu sein. »Da ermittelt mit der IA ja genau die richtige Abteilung«, sagte er. »Die Kollegen sind
schließlich daran gewöhnt, dass sie nicht sonderlich beliebt sind.«
Der Kellner stellte ein Kännchen Kaffee auf den Tisch und goss ein.
»Ist der Kaffee in der Inspektion E eigentlich auch so schlecht wie der bei uns?«, fragte sie.
Er war überrascht. »Sie wissen, dass ich bei der Sitte arbeite?«
Sie lachte. Ihr Grübchen war umwerfend. Gut, dass er bereits saß.
»Nun, wenn jemand freiwillig mit Parabellum-Wolter auf dem Gang steht«, sagte sie, »dann arbeitet er wahrscheinlich auch mit
ihm zusammen. So viel Kombinationsgabe ist in der Mordinspektion Einstellungsvoraussetzung. Auch für eine Stenotypistin.«
Sie trank vorsichtig einen Schluck Kaffee.
»Parabellum?« Diesen Spitznamen hörte er zum ersten Mal.
»Na, der Knabe war doch früher Ausbilder am Schießstand. Einer der besten Schützen der Berliner Polizei.«
»Ist das Ihr Ernst?« Das hätte er Bruno eigentlich gar nicht zugetraut. Rath fiel auf, dass er ihn noch nie hatte schießen
sehen. Bei der Sitte kam man nicht oft in die Verlegenheit, zur Waffe zu greifen.
»Sie sollten häufiger in der Kantine essen anstatt bei Aschinger. Da erfährt man interessante Dinge über die Kollegen. Auch
über Sie.«
»Über mich?« Er war überrascht. »Kennen Sie denn meinen Namen?«
»Hups«, machte sie und fuhr so auffällig mit ihrer Hand vor den Mund, dass er sah, dass es nicht ernst gemeint war. Er musstegrinsen. »Aber tun Sie nicht so scheinheilig!«, meinte sie. »Sie wussten ja gestern schon, dass ich Stenotypistin bin. Also
haben auch Sie bereits mehr Informationen über mich gesammelt, als Sie preisgeben. Und ich hoffe doch sehr, dass mein Name
dazugehört.« Sie seufzte theatralisch. »Was soll man machen«, sagte sie, »die Welt ist ein Dorf. Und die Burg sowieso.«
»Einer der besten Schützen der Berliner Polizei. Der gute alte Bruno!« Rath schüttelte den Kopf. »Wie landet denn so jemand
bei der Sitte?«
»Gute Frage.« Sie rührte in ihrem Kaffee und lächelte ihn an. »Wie sind denn Sie in die Inspektion E geraten?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich fürchte, deutlich länger als eine Tasse Kaffee. Da fragen Sie besser in der Kantine nach.«
»Da wird zwar viel geredet über Sie, aber man erfährt nur wenig.« Sie zeigte vor sich auf den Tisch. »Außerdem habe ich hier
ein ganzes Kännchen Kaffee stehen.«
»Meine Geschichte ist länger als ein ganzer Kaffeeklatsch.«
»Also muss ich Sie zu Kaffee und Kuchen einladen, wenn ich Ihre Geschichte hören will, Herr Rath?«
»Mindestens.« Er dachte nur einen kurzen Moment nach, dann sprach er es aus. »Und zu was muss ich Sie einladen, wenn ich Ihre Geschichte hören will?«
»Ich denke, ein Abendessen reicht.«
Als er längst wieder im Auto saß, kreisten seine Gedanken noch um sie. Er fuhr ziellos durch die Stadt und genoss die freien
Straßen am frühen Sonntagnachmittag. Was hatte sie bei Aschinger gesucht? Kaffee hätte sie auch in der Inspektion A trinken
können. Dort stand sogar immer reichlich Kuchen bereit, dafür sorgte schon Ernst Gennat, der kuchensüchtige Chef der Mordinspektion.
Hatte sie ihn im Auftrag Böhms aushorchen sollen? Wegen ihrer Begegnung an der Möckernbrücke? Warum hatte sie dann so heftig
geflirtet? Gehörte das zu ihrem Plan?
Langsam wurde es Zeit, nach Hause zurückzukehren. Die Strecke, die er gerade gefahren war, wäre etwas für seinen Vater, wennder ihn tatsächlich einmal besuchen kommen sollte, die ideale Route für Provinzbesucher wie Engelbert Rath: vom Alex in die
Königstraße, vorbei an Rathaus und Schloss, über die Schlossbrücke auf die Linden, vorbei an Zeughaus und Alter Wache, rein
in die Charlottenstraße, eine Runde über den Gendarmenmarkt, über Leipziger Straße und Wilhelmstraße, vorbei an den Ministerien,
zurück auf die Linden und dann durchs Brandenburger Tor. Eine geballte Ladung Preußen für den preußischen Musterbeamten Engelbert
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