Der nasse Fisch
hatten sie den Kollegen nicht zu Gesicht bekommen, und ausgerechnet heute tauchte Jänicke wieder auf! Rath hatte
das Gefühl, dass dem Frischling die unverhoffte Begegnung noch peinlicher gewesen war als ihm selbst. War ja auch nicht so
ganz die feine Art, in fremden Schreibtischen rumzuwühlen. Ob Bruno davon wusste? Wahrscheinlich nicht. Rath beschloss, ihm
auch nichts zu erzählen. So lange schwebte Jänicke in der Angst davor, er könnte es tun. Konnte nicht schaden, wenn Jänicke sich zu der ein oder anderen Gefälligkeit verpflichtet fühlte.
Im Treppenhaus merkte Rath, wie hungrig er war. Erst halb zwei,er hatte noch genügend Zeit, hier etwas zu essen. Aber nicht in der Kantine. Statt in den Lichthof ging er zum Ausgang Dircksenstraße.
Die Stadtbahnbögen wurden von ein paar dünnen Sonnenstrahlen beschienen. Er musste den Hut festhalten, als er auf den Platz
bog, der Wind pfiff heftig über den Alex. Auch am Sonntag herrschte dichtes Gewühl zwischen den Bauzäunen. Ein Zeitschriftenhändler
rief halbseidene Magazine aus, Stückpreis 20 Pfennige. Die Ehe , hochinteressant und pikant. Rath fragte sich, ob der Pornohändler, dem sie ihren Fahndungserfolg zu verdanken hatten, irgendwann
wieder einmal hier auftauchen würde. Er drängte sich durch die Menge, quetschte sich an einem Brotwagen vor Aschinger vorbei
und trat ein.
Drinnen war es dunkel, aber angenehm warm. Es roch nach Bier und Zigarettenrauch. Rath nahm eine Sonntagszeitung vom Haken
und suchte sich einen freien Tisch. Als der Kellner kam, bestellte er Sauerbraten mit Klößen und ein Bier. Rath schlug die
Zeitung auf. Das Foto des toten Boris war auch heute abgebildet und hatte es ein paar Seiten weiter nach vorn geschafft. Der
Text war heute größer, wesentliche Neuigkeiten standen jedoch immer noch nicht drin. Böhm kam mit seinen Ermittlungen nicht
voran.
»Ahh! Sie werben nicht nur für Aschinger, Sie essen auch hier!«
Er schreckte hoch, aus seinen Gedanken gerissen. Vor ihm stand eine Frau in einem dunklen Mantel. Charlotte Ritter. Lächelnd.
Eilig faltete er die Zeitung zusammen und murmelte eine Begrüßung. Sie blieb stehen.
»Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?«, fragte sie.
»Natürlich.« Er stand auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Als er hinter ihr stand und ihren schlanken Hals betrachtete,
merkte er, wie gut sie roch.
Sie setzte sich. Er überlegte, wie er das Gespräch mit ihr beginnen sollte. Bevor er etwas Dummes sagen konnte, kam der Kellner
mit dem Essen.
»Für mich nur einen Kaffee«, sagte sie und wünschte guten Appetit.
»Danke.« Am liebsten hätte er sich den Sauerbraten einpacken lassen. »So schnell sieht man sich wieder«, sagte er stattdessen
und begann zu essen. »Heute auch im Präsidium gewesen?«
»Was heißt gewesen! Gleich geht’s weiter. Böhm hat mich nur kurz von der Leine gelassen. Wir haben viel zu tun! Wieder mal
ein arbeitsreiches Wochenende.« Sie zuckte die Achseln, als wolle sie sagen: Was soll’s. So ist das eben.
»Und? Schon weitergekommen?«
»Weiter wäre übertrieben. Ein seltsamer Fall. Kaum Anhaltspunkte. Ich fürchte, der Fall Wassermann wird uns noch eine Weile beschäftigen.«
»Wassermann?«
»Auch wenn’s keine klassische Wasserleiche ist. Wie soll man seinen Fall nennen, wenn das Opfer keinen Namen hat?«
»Sie kennen die Identität des Toten nicht?«
»Wenn wir seinen Namen wüssten, wären wir schon ein großes Stück weiter. Doch so treten wir im Moment leider etwas auf der
Stelle. Obwohl Zörgiebel am liebsten vorgestern Ergebnisse sehen würde.«
Das schlechte Gewissen des Polizeipräsidenten. Weinert hatte recht. Der Dicke drückte auf die Tube, er wollte einen schnellen Erfolg. Die Mordermittler waren die beliebtesten
Polizisten Berlins, populär wie Ufa-Schauspieler. Und die Inspektion A hatte eine traumhafte Aufklärungsquote, auf die Zörgiebel
offensichtlich baute. Keine Frage: Dörrzwiebel, wie der Polizeipräsident hinter vorgehaltener Hand auch im Kreise der Beamten
genannt wurde, stand unter Druck. Den Spitznamen hatten sie ihm angehängt, als Karl Zörgiebel noch Polizeipräsident in Köln
gewesen war.
»Und ich dachte, alle Kräfte der Inspektion A wären derzeit darauf konzentriert, die Todesfälle der Maiunruhen zu untersuchen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Darum kümmert sich allein die IA. So viele Tote hatten die Politischen schon lange nicht mehr auf
ihren Schreibtischen, die reinste
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