Der nasse Fisch
Ohr, das schmerzte und summte. Erst jetzt begriff er, was passiert war. Oder versuchte
zu begreifen.
War es die Mischung aus Alkohol, Kokain und Adrenalin, die ihm die ganze Szene irgendwie unwirklich erscheinen ließ? Doch
sie war wirklich. Erschreckend wirklich. Er konnte die Leiche mit dem Fuß anstoßen.
Dann sah er neben seinem Fuß Metall glänzen und hätte beinah gelacht. Ein Gullydeckel! Ein profaner, gewöhnlicher Gullydeckel,
durch den das Regenwasser von dem gepflasterten Hof abfloss, warseinem Angreifer zum Verhängnis geworden. Wie im Billard. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel.
Als habe jemand eine Scheibe eingetreten und die Wirklichkeit dahinter offenbare sich erst jetzt, wurde ihm bewusst, dass
er hier neben einer Leiche stand. Neben einem Menschen, den eine Kugel aus seiner Mauser getötet hatte.
Wer würde ihm diese Geschichte glauben? Da lag eine Leiche. Und Herr Kriminalkommissar Gereon Rath, vollgepumpt mit Kokain
und Alkohol, behauptet, es sei alles ein Versehen? Ihm wurde klar, dass er das niemandem würde verkaufen können. Er hörte
den Staatsanwalt seine Fragen stellen: Wie war das noch gleich, warum haben Sie Kokain genommen, Herr Kommissar? Ach, um an
Herrn Marlow heranzukommen, sehr interessant. Was wollten Sie denn von dem? Was hatten Sie überhaupt zu dieser nachtschlafenden
Zeit in einem berüchtigten Verbrecherviertel zu suchen?
Diesmal würde er nicht einmal vor Gericht mit heiler Haut davonkommen. Ganz zu schweigen von der Presse. Ein Bulle, der im
Kokainrausch einen Menschen erschießt – auf so eine Schlagzeile wartete die Kochstraße doch schon seit der Abdankung des Kaisers.
Er schaute sich um. Alle Fenster waren dunkel geblieben. Aber mindestens ein Mensch musste ihren Kampf beobachtet haben. Rath
untersuchte die braunen Scherben. Vom Weiß der Pfütze war nichts geblieben, nur ein paar Bläschen, die auf einer Flüssigkeit
trieben. Ein bekannter Geruch stieg ihm in die Nase. Neben den nassen Scherben lag ein Metallbügel mit einem Porzellanstopfen.
Eine Bierflasche. Irgendeinem schlaflosen Spanner da oben war sein Bier vor Schreck vom Fensterbrett gefallen.
Ein Zeuge!
Und wenn schon! Keine Panik! Ein Schuss war hier nichts Ungewöhnliches. Niemand würde sich den Fragen der verhassten Bullen
aussetzen, nur weil er Zeuge einer Schießerei geworden war. Das alles redete er sich ein wie ein Kind, das nicht an Gespenster
glauben will und sich trotzdem im Dunkeln fürchtet. Beim Gedanken, aus einem dieser schwarzen Fensterlöcher beobachtet zu werden, zog Rath unwillkürlich seinen Hut tiefer in die Stirn.
Und dann wurden seine Gedanken ganz klar, er wusste genau, was er zu tun hatte. Ganz ruhig steckte er seine Waffe wieder ein
und durchsuchte die Taschen des Toten. Er zuckte zurück, als ihn etwas in den Finger stach. Eine Anstecknadel, die der Mann
im Mantel trug, das war alles, keine Waffe, nicht einmal eine Brieftasche. Nur ein kleiner stilisierter Stahlhelm. Rath warf
das Ding in den Gully. Dann knöpfte er dem Toten den Mantel bis obenhin zu, setzte ihm den Hut wieder auf und begann, am Mantelkragen
zu ziehen.
Der Regen wurde stärker, als er den überraschend schweren Körper zum Bauzaun schleifte und dort nach einer Lücke suchte. Es
gab immer eine Lücke, das wusste er seit Kindertagen, wo sie sich einen Sport daraus gemacht hatten, in jede Baustelle in
Klettenberg einzudringen und dort zu spielen. Auch hier hatte er das lose Brett schnell gefunden. Er half noch etwas nach
bei einem Nachbarbrett, bis die Lücke groß genug war, um die Leiche hindurchzuziehen. Er schaute sich um. Weit waren sie mit
der Baustelle noch nicht gekommen, gerade erst die Fundamente und die Bodenplatte. Rath stieg in die Baugrube hinunter und
testete den Beton mit einem Kantholz. Noch nicht abgebunden, sie mussten ihn heute erst gegossen haben. Er zerrte den Toten
zur Baugrube hinunter und besorgte sich eine Schaufel aus dem Bauwagen. Das Schloss wischte er mit seinem Taschentuch ab,
nachdem er es aufgebrochen hatte. Sein trockener Mund machte ihn wahnsinnig. Fast hätte er eine Flasche Bier aus dem Kasten
genommen, der dort neben einem rostigen Fahrrad an der Wand stand, doch er beherrschte sich. Lieber streckte er die Zunge
in den Regen, der nun laut prasselte.
Wie im Rausch grub er ein Loch in den frischen Beton, legte den Mann hinein und schaufelte den Beton wieder darauf. Ein bisschen
was blieb übrig, das verteilte er.
Weitere Kostenlose Bücher