Der nasse Fisch
unterstützte.
Je länger der Krieg dauerte, umso schmutziger wurde er. Vielen Kameraden ging es irgendwann nur noch darum, heil wieder nach
Hause zu kommen. Ihm nicht, er hoffte bis zum Schluss. Schließlichstanden sie seit vier Jahren mitten im Feindesland. Aber Deutschlands Zukunft war im Eimer, als die Roten in Berlin schließlich
den Kaiser fortjagten und die Kapitulation unterschrieben – und das, obwohl er mit seiner Einheit drei Jahre lang keinen Millimeter
zurückgewichen war; mitten in Frankreich hatten sie sich festgesetzt, ohne jemals nachzugeben, mitten im Land des Feindes,
und dann löste sich plötzlich alles auf: Das Land, für das sie gekämpft hatten, gab es nicht mehr. Es nannte sich immer noch
Deutschland, doch es war nicht mehr ihr Land.
Dennoch war er bei der Polizei geblieben, der er schon unter dem Kaiser gedient hatte. Auch bei den Sozis musste schließlich
jemand für Recht und Ordnung sorgen. Und er hatte die Hoffnung auf das Deutschland, für das er gekämpft hatte, nie aufgegeben.
Er wollte diesem Land weiter dienen. So hielt er den Kontakt zu den alten Kameraden aufrecht – zu denen, die den Krieg überlebt
hatten.
Er parkte den Ford direkt vor der Josty -Filiale an der Kaiserallee und suchte sich einen Sonnenplatz auf der Terrasse. Kurz darauf brachte ihm der Kellner den bestellten
Kaffee, und Wolter blätterte in den Zeitungen. Alle berichteten sie über den Young-Plan. Blödsinniges Geschwätz, diese Verhandlungen
in Genf. Ungeduldig raschelte er mit dem Papier, immer wieder schaute er von seiner Lektüre auf und warf einen Blick auf den
Zugang zur Café-Terrasse und auf den breiten Gehweg der Kaiserallee. Seine Laune wurde zusehends schlechter. Er hatte nicht
ewig Zeit!
Nach einer Dreiviertelstunde Warten und einer zweiten Tasse Kaffee war er es leid. Sonst war auf den Mann doch Verlass, ausgerechnet
heute ließ er ihre Verabredung platzen! Wolter hatte wahrlich genug um die Ohren! Verärgert legte er das abgezählte Geld auf
den Tisch. Während er von der sonnenbeschienenen Terrasse wieder auf die Kaiserallee trat, versuchte er, sich zu beruhigen.
Nicht nervös werden, dachte er. Er war lange genug im Geschäft. Am besten wartete er in Ruhe den heutigen Abend ab, da würde
er mehr erfahren. Und bis dahin hatte er noch genug zu tun.
Der Umriss eines Mannes löste sich aus dem Schatten des Zeitungskiosks auf der anderen Straßenseite. Als Wolter sich auf denFahrersitz seines Wagens fallen ließ, winkte der Mann ein Taxi heran.
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17
L ange konnte Rath noch nicht geschlafen haben, als das Telefon ihn aus dunklen Träumen zurück in die Wirklichkeit klingelte.
Er blinzelte aus verklebten Augen und tastete nach dem Hörer.
»Hallo«, brummte er.
»Gereon?«
Die Stimme machte ihn mit einem Schlag hellwach.
Charly!
Er setzte sich auf.
»Guten …« Er schaute auf den Wecker. Halb elf. »Guten Morgen.«
»Morgen, Langschläfer!« Sie hörte sich fröhlich an. »Ich dachte, wenn wir uns heute schon nicht in der Burg sehen, sollten
wir wenigstens kurz telefonieren.«
»Ja«, sagte er nur. Seine Gedanken hatten sich in den wirren Träumen der viel zu kurzen Nacht verfangen, und einige Fetzen
hingen immer noch dort fest. Ihr Anruf hatte ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen, in den er gerade erst gesunken war. Als
er versuchte, seinen Kopf klar zu bekommen, wurde ihm schlagartig bewusst, dass der einäugige Mann aus seinen Träumen Realität
war. Die Ereignisse der vergangenen Nacht holten ihn wieder ein wie ein ausgesetzter Hund sein Herrchen. Ungeliebt, aber anhänglich.
In seinem Kopf begann ein Filmprojektor zu surren, der die Bilder abspielte, die ihn bis in den Schlaf verfolgt hatten: der
Angriff des Unbekannten, der Schuss, das Blut in der leeren Augenhöhle, ein Toter, der im Beton verschwindet. Lautlos. Bilder
ohne Ton. Aber gestochen scharf.
»Du hörst dich an, als hätte ich dich geweckt?«
Ihre Stimme stoppte den stummen Film. Rath fühlte sich wie ertappt. Als sei der Projektor auch für Charly gelaufen, als habe
sie einen Blick in die entlegensten Winkel seiner Seele erhaschen können und seine dunkle Seite gesehen. Von Köln hatte er
noch nichts erzählt. Nicht einmal das. Wie sollte er ihr jetzt beibringen, was gestern Nacht passiert war? Er wischte mit
der Hand durch die Luft, als könne er die Gedanken vertreiben wie eine lästige Fliege. Irgendwann einmal würde er ihr alles
erzählen. Auch den
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