Der nasse Fisch
hatte ihn gleich wiedererkannt. Im Treppenhaus roch es nach Putzmittel, genau wie vor einer Woche. Schon wieder störte
er ihren Hausputz. Der Eimer stand noch im Treppenhaus.
»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Frau Schäffner.« Rath verzichtete diesmal darauf, seinen Dienstausweis vorzuzeigen.
Sie ließ ihn auch so herein. Er vermied es, sich wieder in den Sessel zu setzen, und blieb stehen. Sie wedelte demonstrativ
mit einem Staublappen durchs Regal.
»Diesmal suche ich eine Frau …«
»Na, ick bin ja schon verjeben, wa!«
»… eine alleinstehende Frau, die hier im Haus wohnt.« Rath ließ sich von ihrem anzüglichen Humor nicht beirren. »Eine Frau,
die seit einiger Zeit verreist ist.«
»Na, warum hamse das denn nich schon letzte Woche jesacht?Fragen mich Löcher innen Bauch nach irjendnem Russen! Sie meenen bestimmt die Steinrück. Die hält sich ja für ’ne janz feine
Dame, dabei kannse sich gerade mal so ’ne kleene Bude unterm Dach leisten. Aber ’ne Russin is die nich, det wüsste ick.«
Rath beschloss, sich nicht auf die Menschenkenntnis der Portiersfrau zu verlassen. Dass er nach einer Russin suchte, hatte
er ihr noch gar nicht erzählt, es hatte sie auch nicht zu interessieren. Er ließ sich die Wohnung aufschließen. Frau Schäffner
holte den Schlüssel aus einem Holzschuppen im Hof und keuchte theatralisch, als sie sich vor ihm das Treppenhaus hinaufquälte.
Ingeborg Steinrück wohnte im ersten Hinterhaus ganz oben. Neugierig blieb die Portiersfrau hinter Rath stehen, als er Licht
in dem fensterlosen Flur machte.
»Tut mir leid, dass ich Sie beim Hausputz gestört habe«, sagte er und drehte sich zu der Dicken um. »Aber Sie können jetzt
gern weitermachen.«
Sie schaute ihn verständnislos an.
»Ich bringe Ihnen den Schlüssel zurück, wenn ich hier fertig bin«, schob Rath nach. »Oder soll ich ihn einfach in den Schuppen
hängen?«
Das Misstrauen in ihren Augen flackerte kurz auf, auch enttäuschte Neugier glaubte Rath zu erkennen, doch dann drehte sie
sich wortlos um und ging die Treppe hinab. Den Schlüsselbund ließ sie im Schloss stecken. Wenigstens hatte sie so viel Respekt
vor der Obrigkeit, dass sie nicht nach einem Durchsuchungsbefehl gefragt hatte. Rath trat ein.
Es sah aufgeräumter aus, als er erwartet hatte. Wahrscheinlich das Werk von Ilja Tretschkow. Sogar die Blumen unter den kleinen
Dachfenstern, den einzigen natürlichen Lichtquellen hier oben, schienen Wasser bekommen zu haben. Die Wohnung bestand aus
einer Dachkammer, in der gerade einmal ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit einem Stuhl Platz fanden, einer kleinen
Küche und einem noch kleineren Bad. Nach der Residenz einer Gräfin, deren Familie über ein sagenhaftes Vermögen verfügte,
sah das jedenfalls nicht aus. Einen Hauch von Luxus deutete nur derelektrische Haartrockner an, der im blitzblank geputzten Bad unter dem Spiegel lag.
Raths Blick wanderte durch das Zimmer. Er suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, irgendetwas, das ihm sagen konnte, in welche
Richtung er seine Ermittlung lenken konnte. Über dem Bett hing ein Bücherregal an der Wand. Alles auf Deutsch. Kein einziger
russischer Titel, nicht einmal russische Autoren. Rath blätterte die Bücher durch. Nichts Besonderes. Keine Zettel, nichts.
Diese Frau hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, ihre russischen und aristokratischen Wurzeln zu verbergen. Der Papierkorb
unter dem Tisch war leer. Wenn sie wirklich geflohen war, hatte sie bestimmt darauf geachtet, keine Hinweise zurückzulassen.
Und wenn sie etwas übersehen hatte, musste Tretschkow es längst gefunden haben. Hier sah es aus, als habe der Mann sogar noch
einmal durchgefegt.
Er fand kein einziges Foto. Nicht an den Wänden, nicht auf dem Nachttisch, nicht in den Schubladen. Keine Plakate, nichts,
das auf ihren Beruf als Sängerin hindeutete. Rath zog das Delphi -Programmheft aus seiner Tasche und warf einen Blick auf das Gesicht. Eine schöne Frau. Warum war sie verschwunden?
Es gab nur drei Möglichkeiten: Entweder war sie Hals über Kopf geflohen, man hatte sie entführt – oder irgendjemand hatte
sie ermordet. War sie mit Kardakow auf und davon? Hatten Stalins Leute sie nach Moskau verschleppt? Oder hatte Kardakow sie
ebenso auf dem Gewissen wie Boris – weil er sich das Gold aneignen wollte und die beiden im Weg waren, der Bote und die Besitzerin?
Rath wusste zu wenig über seinen Vormieter, um sagen zu
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