Der nasse Fisch
können, ob er zu so etwas imstande gewesen wäre. Allerdings hatte
er in seinem Beruf lernen müssen, dass Menschen zu viel schlimmeren Dingen in der Lage sind, als man ihnen ansieht.
Der Kleiderschrank hing noch voller Kleider. Einfache, aber geschmackvolle Garderobe. Rath nahm ein herbstfarbenes Kleid vom
Bügel und betrachtete es. Die Gräfin musste ein zierliches Persönchen sein. Er wühlte sich durch den ganzen Schrank. Auch
ein Wintermantel hing dort noch – hatte sie sich erst nach der Hitzewelle aus dem Staub gemacht? Oder hatte sie ihn zurücklassenmüssen? Der Mantel musste älter sein, als er aussah, das Futter war an einer Stelle eingerissen. Nein, nicht eingerissen,
sondern sauber aufgetrennt. Rath untersuchte die Stelle genauer. Es sah aus, als habe jemand etwas aus dem Futter holen wollen.
Und dieser Jemand hatte offensichtlich Erfolg gehabt. Rath suchte den ganzen Mantel ab und fand nichts. Auch das Zimmer nahm
er jetzt noch einmal genauer unter die Lupe. Nichts, klinisch rein. Rath wusste nun, dass er Tretschkow noch einen Besuch
abstatten musste.
Kurz darauf stand er Frau Schäffner wieder gegenüber. Die hatte sich mit ihrem Putzeimer inzwischen die Treppe im Hinterhaus
hochgearbeitet und schaute ihn mit hochrotem, schweißnassem Kopf an.
»Sie hier?«, staunte Rath. »Haben Sie vorhin nicht noch im Vorderhaus Treppe geputzt?«
Sie japste ausdrucksvoll nach Luft. Ihre fetten Oberarme wabbelten, als sie den Lappen geräuschvoll auswrang.
»Meenense etwa, mit’en Vorderhaus wär die Arbeit jetan? Na, Sie ham Nerven!«
Er überhörte den Vorwurf in ihrer Stimme geflissentlich. Es klang so, als ob die ganze Welt daran schuld sei, dass Margarete
Schäffner Treppe putzen musste, insbesondere aber die Berliner Polizei und Kriminalkommissar Gereon Rath.
»Gute Nerven sind Einstellungsvoraussetzung bei der preußischen Polizei«, sagte er und klimperte mit dem Schlüsselbund.
»Na, wo soll ick denn jetzt hin damit?«
»Gönnen Sie sich mal eine Pause und bringen Sie ihn zurück. Ich möchte Ihnen sowieso noch ein paar Fragen stellen.«
»Schon wieder Fragen?« Sie ließ den Putzlappen zurück in den Blecheimer fallen und wischte sich die Hände an ihrer Schürze
ab. »Sagense mal, wollense nich ’n Abonnemang bei mir lösen, det macht die Sache vielleicht billijer!«
Dumm, aber schlagfertig. Er ignorierte ihren Ton. Wenigstens stand sie auf und begleitete ihn nach unten.
»Wissen Sie, wie lange Frau Steinrück schon verreist ist?«, fragte er sie noch im Treppenhaus.
»Wat weeß ick? Vielleicht zwee Wochen. Vielleicht auch länger. Die war ja immer wieder mal weg.«
»Ist irgendwer im Haus näher mit ihr bekannt?«
»Mit der Steinrück? Sie machen Witze! Die ist doch wat Besseret, die jibt sich doch mit unsereinen jar nich ab! Jesehen hat
manse ooch selten, hat ja immer lang im Bette jelegen, und war meist erst abends unterwegs.«
»Wie der Herr hier.«
»Wie?«
Rath deutete auf die Wohnungstür, die sie gerade passiert hatten. »Herr Müller«, sagte er, »der arbeitet doch auch nachts.«
Er hielt ihr die Tür zum Hof auf, und sie wuchtete ihren Körper hindurch.
»Herr Müller hat wenigstens einen Grund, der jeht arbeiten.«
»Frau Steinrück nicht? Sie ist doch Sängerin, oder?«
»Det hatse erzählt, aber singen jehört hat manse selten. Wennse mich fragen: Da jibtet ooch noch andere Möglichkeiten für
’ne Frau, nachts ihr Jeld zu verdienen.«
»Hatte sie denn manchmal Besuch?«
»Manchmal? Immer wieder! Und ausschließlich Herrenbesuch!«
»Der Russe, dessen Bild ich Ihnen letzte Woche gezeigt habe, war der auch dabei?«
»Woher soll ick’n det wissen? Wenn die Kerle kamen, war’s meist schon dunkel.«
Sie waren im Vorderhaus angelangt. Sie schloss die Wohnung auf, ging hinein und stutzte, als Rath draußen stehen blieb.
»Na! Wat is?«
»Was soll sein?«
»Kommense nich mit rin?«
»Danke für die Einladung, aber ich habe alle Fragen gestellt. Auf Wiedersehen.« Mit diesen Worten lüftete er seinen Hut, drehte
um und ging hinaus. Er konnte sich ihr Gesicht vorstellen, obwohl er ihr den Rücken zudrehte. Es dauerte ungefähr eine Sekunde,
da hatte sie ihre Sprache wiedergefunden.
»Un dafür loof ick hier übern Hof? Det hättense mich doch ooch hinten im Treppenhaus fragen können! Det is ja wohl …«
Was sie sonst noch sagte, konnte er nicht mehr verstehen, nachdem die schwere Haustür ins Schloss gefallen war. Rath gab sich
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