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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Tore wurden nur von uns beiden geschossen - und zwar abwechselnd. Itzig schoß nur mit dem rechten Fuß, ich dagegen mit dem linken. Wir beide wurden berühmt, wurden oft angestänkert, wie das so ist, wenn man berühmt wird, machten uns aber nichts draus, sagten zu uns: die sind ja bloß neidisch - hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
    Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und guteZähne. Ich dagegen, Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz, hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne. Daß wir beide oft verwechselt wurden, werden Sie sich ja leicht vorstellen können. Die Jungens von der gegnerischen Mannschaft riefen mich »Itzig«, sagten, ich hätte den Fußball verhext, fragten mich, ob mein Vater, der Chaim Finkelstein , auch ins Waschbecken pinkelte wie der Stiefvater meines Freundes Max Schulz, ob er seiner Frau, auch den Hintern versohle, und wenn nicht, warum nicht?
    Wenn ich das meinem Stiefvater Slavitzki erzählt hätte, dann hätte er nur gesagt: Na, was hab ich dir gesagt! Spiel nicht mit dem Itzig. Der hat dich verhext. Ist doch klar. Wieso hat er dein blondes Haar? Und du sein schwarzes? Und deine gerade Nase? Und du seine krumme? Von den Augen, Lippen und Zähnen gar nicht zu reden ...
    Aber ich erzählte das natürlich nicht meinem Stiefva ter, sondern erzählte es nur dem Herrn Friseur Chaim Finkelstein.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Chaim Finkelstein. »Es gibt keine Juden, die so aussehen wie du. Aber das wissen die nicht. Verstehst du das? Die haben Vorurtei le und glauben eben, so und so müßte ein Jude aussehen. Und du siehst eben so aus.«
    Itzig Finkelstein wußte natürlich, daß mein Stiefvater mich ab und zu vergewaltigte, aber er wußte nicht, daß mein Stiefvater mich auch schlug. Eines Tages zeigte ich ihm die dicken roten Streifen auf meinem Gesäß. »Und wie macht er das?« fragte mein Freund Itzig Finkelstein.
    »Mit einem Rohrstock«, sagte ich ... »und zwar mit einem schwarzen. Wir besitzen einen gelben, aber der ist nur für meine Mutter bestimmt. Nach den Schlägen schmerzt die Stelle oder schmerzen die Stellen ein paar Stunden lang. Das ist nicht so schlimm. Nein. Das ist gar nicht schlimm. Schlimm ist's nur, wenn er meine Mutter haut. Jedesmal, wenn er meine Mutter haut, fängt auch mein Hintern zu schmerzen an! Und wie!«
    »Das versteh' ich nicht«, sagte Itzig.
    »Ich auch nicht«, sagte ich.
    Ich konnte vieles verstehen, aber vieles verstand ich auch nicht. Zum Beispiel meine Träume: Oft träumte ich von einem langen Messer. Damit schnitt ich Slavitzkis Glied ab, klebte es mir an, weil es länger war, lief im Kinderzimmer herum, mit dem langen Glied, machte Purzelbäume, Spagat, Handstand, Kopfstand, rannte ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer, sah den gliedlosen Slavitzki im Bett neben meiner Mutter, sah seinen neidischen Blick, sah, wie er in sich zusammenkroch, wegkroch, mir Platz machte, sah, wie meine Mutter sich freute, mich streichelte, mein Glied streichelte, das lange, mit ihren fetten Fingern, wachte dann auf.
    Ich träumte auch von dem gelben Rohrstock und von dem schwarzen, sah beide in meiner Hand. Ich konnte Slavitzki im Traum nicht sehen, aber ich hörte ihn brüllen ... ganz deutlich ... hörte seine Stimme, wußte, für wenn die Schläge bestimmt waren, hörte das Klatschen: Stock gegen Fleisch.
4.
    Als Itzig Finkelstein im Alter von zehn Jahren von der Volksschule ins Gymnasium versetzt wurde, wie das damals Sitte war bei den Reichen und Klugen, beschloß ich, dasselbe zu tun.
    »Und was willst du mit deinem Dachschaden auf dem Gymnasium?« fragte meine Mutter. »Du bleibst weiter auf der Volksschule.«
    »Kommt nicht in Frage«, sagte ich zu meiner Mutter.
    »Warum?« fragte meine Mutter.
    »Warum nicht?« sagte ich.
    »Du redest wie ein Jude«, sagte meine Mutter. »Deine Antworten sind verdreht. Wer bist du eigentlich?«
    »Itzig geht aufs Gymnasium«, sagte ich, »folglich gehe ich auch.«
    »Damit du weiter von ihm abschreiben kannst, was?«
    »Ja«, sagte ich. »Wir müssen auf derselben Bank sit zen. Das ist wichtig.«
    »Kommt trotzdem nicht in Frage«, sagte meine Mutter.
    »Soll ich Slavitzki erzählen, daß der Hausmeister zu dir kommt? Jeden zweiten Nachmittag?«
    »Du willst mich wohl erpressen?«
    »Der Hausmeister«, sagte ich.
    Ich weiß nicht, ob das eine Erpressung war oder nicht. Auf jeden Fall
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