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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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»Adam« aus Segeltuch oder Hanfschlauch mit Griff an der einen und Ring an der anderen Seite, den »Hand streichriemen« aus Juchtenleder auf Holz gespannt und den »Stoßriemen« mit einseitigem Griff.
    Haben Sie schon mal ein Rasiermesser geschärft? Wissen Sie, was ein Kopfhalter ist und Kopfhaltepapier? Wissen Sie, daß ein guter Friseur dem Kunden eine Ser viette unter den Kragen schiebt, von der allerdings nur ein Streifen von viereinhalb Zentimeter umgeschlagen wird, der Streifen nämlich, der zwischen Hals und Kra gen verschwindet, sozusagen eingeschoben wird?
    Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was ich bei Chaim Finkelstein gelernt hatte, dann würde ich nie aufhören ...
    Wissen Sie, wie ein Taschenspiegel aussieht ... einer, der einer Dame gehört, die keine Dame ist? Ich meine den Taschenspiegel meiner Mutter ... in ihrer großen, billigen Handtasche, zwischen Puderdose, Nagellack, Lippenstift, Haarnadeln, Taschentuch, Nähzeug und sonstigem Kram eingeklemmt oder -gezwängt ... ein kleiner Spiegel, lippenstift- und nagellackverschmiert oder verklebt ... ein bißchen angeschlagen oder ein bißchen sehr ... mit gläsernen Laufmaschen ...
    Den borgte ich manchmal, hielt ihn vor mein Gesicht. Und sah, was ich sah! Verschiedene Gesichter zwischen den vielen Sprüngen im Spiegelglas: das Gesicht eines Friseurs ... das Gesicht eines studierten Herrn ... das Gesicht eines Halbidioten ... das Gesicht eines Dichters ... das Gesicht eines Perversen ... das Gesicht eines Normalen ... das Gesicht eines Ariers ... das Gesicht eines Juden ... das Gesicht eines Fußballspielers ... Aber noch andere Gesichter - besonders, wenn meine Froschaugen vom langen Starren zu tränen anfingen ... dann sah ich zwischen den gläsernen Laufmaschen des gesprungenen Handspiegels ... noch eine Menge anderer Gesichter ... Gesichter aus einer fernen Zukunft, die ich nicht kannte ... gebrochene Reihen, ... Gesichterreihen ... und eines davon ... ein ganz bestimmtes ... eines, das sich bewegte, wegtanzen wollte ... aus den Reihen tanzen ... den Gesichterreihen ... als ob es nicht dazugehörte ... das ... das eine: das Gesicht eines Mörders! ... aber ein seltsames Mördergesicht war das, denn es schien zugleich die Züge aller Sterblichen zu tragen, die nach »Seinem Ebenbild« erschaffen wurden ... und doch konnte ich das nicht mit Bestimmtheit sagen, obwohl es ein bestimmtes Gesicht war, das ich sah, weil alles verschwommen war ... weil meine Augen tränten ... die verdammten Froschaugen ... und weil ich nicht wußte, ob ich dem Handspiegel mei ner Mutter, die doch eine Nutte war, trauen konnte.
    Vor dem Spiegel fragte ich mich: Wer bist du eigent lich? Fragte, wie meine Mutter gefragt hatte ... wollte eines wählen ... eines der Gesichter ... konnte aber nicht ... die wollten nichts mit mir zu tun haben; die starrten mich wütend an, seltsam verzerrt, weil ich Grimassen schnitt und die Zunge herausstreckte.
6.
    In den nächsten Jahren passierte nicht viel. Ich wurde ein guter Friseur, bestand alle Prüfungen, wohnte noch bei Slavitzki und meiner Mutter, arbeitete jedoch im Friseursalon ›Der Herr von Welt‹, der übrigens ver größert worden war: früher bloß fünf Friseursessel und zwei Gesellen, später zehn Friseursessel und acht Gesellen.
    Anfang der dreißiger Jahre begann mein Stiefvater merklich zu altern, setzte Fett an, kriegte graue Schläfen, färbte dieselben, kämmte sein schütter gewordenes Haar in die Stirn, wollte keß aussehen, brüllte lauter als früher, trank mehr Schnaps denn je, ließ sich einen Schnurrbart wachsen. Auch meine Mutter hatte sich verändert, war noch fetter geworden, hatte keinen Hals mehr, konnte sich kaum noch bewegen, hatte auch keine Lust mehr, Hündchen zu spielen, konnte auch nicht mehr richtig bellen. Ihre Beine jedoch waren noch magerer geworden.
    Bei uns im Keller wurde jetzt oft von Adolf Hitler gesprochen, und Slavitzki freute sich, wenn meine Mutter sagte: »Weißt du, Anton! Seitdem du einen Schnurr bart hast und eine Stirnlocke, siehst du dem »Führer« ähnlich.«
    Und Slavitzki sagte: »Ja, Minna. Das hat auch der Schuster Hans Baumeister gesagt."
    Slavitzki, der sonst keine Zeitungen las, kaufte seit 1930, regelmäßig den »Stürmer« und den »Völkischen Beobachter«, spuckte aus, wenn das Wort Jude vorkam, fand Gefallen an besonders kräftigen nationalsozialisti schen Schlagwörtern, ließ sie sich vom Schuster Hans Baumeister erklären, erklärte sie dann meiner Mutter,

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