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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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setzte ich durch, was ich wollte. Ich wurde Gymnasialschüler.
    Meine Mutter - und ich - wir ließen Slavitzki im Glauben, daß ich weiter zur Volksschule ging. Kannten ja seinen Neid. Schließlich erfuhr er doch die Wahrheit, nannte mich höhnisch: eine feinen Herren ... einen Gymnasialschüler ... einen Studenten ... einen, der ein Professor werden wollte - und prügelte mich täglich »wegen meiner Graupen im Kopf«. Ich ließ mich aber nicht beirren.
    Meine arme Mutter bezahlte die Schulkosten von dem Geld, das ihr der Hausmeister gab. Bücher und Hefte, Federhalter, Radiergummis und sonstiges Zeug kaufte ich selbst, denn seit meinem zehnten Lebensjahr verdiente ich regelmäßig, half Krüppeln und Blinden über die Straße, wiegte das Kind des katholischen Schu sters Hans Baumeister oder fegte seine Werkstatt mit einem langen Strohbesen, machte dasselbe für den jüdi schen Schuster Fritz Weber - von dem mein Stiefvater Slavitzki zu sagen pflegte: »Den deutschen Namen hat der Jude geklaut!« - besorgte Wege für Hausfrauen, machte mich beliebt, kriegte Trinkgelder, Bonbons, Lakritzstangen.
    Die Jahre im Gymnasium drückten mir, Max Schulz, Sohn einer Nutte, Stiefsohn eines Kinderschänders, Rattenquäler mit Dachschaden ... einen neuen Stempel auf. Ich entwickelte mich, wurde ein studierter junger Herr, der Latein konnte und Griechisch und sogar Algebra, der über vieles Bescheid wußte, besonders über Geschichte und Mythologie. Ja, ganz besonders Geschichte und Mythologie, obwohl ich das manchmal verwechselte, sozusagen durcheinanderbrachte in meinen Vorstellungen. - Allerdings war ich kein Vorzugsschüler, aber unter der Leitung und Anregung von Itzig Finkelstein, der ja neben mir auf der Schulbank saß, stopfte ich doch allerhand Wissenswertes in meinen Bastardschädel. Wissen Sie ... sogar die dürre Hilda, das Dienstmädchen von Finkelstein, bekam richtigen Respekt vor mir und pflegte zuweilen zu sagen: »Der Max Schulz ist zwar ein Halbidiot, aber doch ein studierter junger Herr.«
    Itzig Finkelstein las in seiner Freizeit gute Bücher, auch Werke großer Dichter und Denker, die nicht im Schulplan standen - und da ich, Max Schulz, alles nach ahmte, was Itzig Finkelstein tat oder machte, las ich natürlich dieselben Bücher, wurde noch klüger - fast so klug wie Itzig Finkelstein.
    Mit 16 Jahren gründete Itzig Finkelstein einen Dichterklub. Können Sie sich das vorstellen? Itzig Finkelstein, der Sohn des Friseurs Chaim Finkelstein - ein Dichter? Das war aber so. So und so und nicht anders. Natürlich machte ich mit, wollte meinen Freund nicht im Stich lassen, begann selber Gedichte zu schreiben, entdeckte meine dichterische Ader, wußte nicht, woher ich das hatte ... hatte sie aber!
    Itzig Finkelsteins Gedichte waren formvollendet, meine formlos, seine harmonisch, meine disharmonisch, seine vernünftig, meine unvernünftig, seine reell und normal, meine absurd und pervers. Wir beide wurden berühmt im Gymnasium, wurden angestaunt, beneidet, gehaßt, steckten oft Prügel ein - es war nicht anders als früher beim Fußballspiel - aber: wir dichteten unbeirrt weiter.
    Als das Jahr 1923 zur Neige kroch oder kriechend eilte - denn wir hatten ja Inflation und das war ein langes Jahr, ein kriechendes Jahr, obwohl das Jahr es eilig hatte wegen des neuen Kalenders - da sagte mein Freund Itzig Finkelstein: »So! Jetzt ist's aber genug. Wir sind gebildet. Wir sind zwei große Dichter, jeder auf seine Art. Ich gehe jetzt zu meinem Vater in die Lehre."
    Ich fragte: »Und ich?«
    »Du auch«, sagte Itzig Finkelstein.
    »Und was wird aus unserem Studium?«
    »Ach, Scheiße«, sagte Itzig Finkelstein. »In Deutsch land herrscht Inflation. Es ist sowieso alles im Eimer. Am besten, man lernt ein Handwerk. Handwerk hat goldenen Boden.«
    »Und was sagt dein Vater dazu?«
    »Wir sind derselben Meinung.«
    Ich sagte: »Eigentlich hast du recht. Wir hätten es sowieso nicht geschafft. Die Universität - uns dort durchzuwurschteln - und alles Drum und Dran - und die Jahre nachher - und dann - in der Dichtkunst steckt kein Geld.«
    »Das steckt nicht drin«, sagte Itzig Finkelstein.
    »Und die Inflation«, sagte ich. »Nichts hat mehr Sinn. Du hast recht. Aber das Handwerk. Das hat goldenen Boden.«
    Itzig Finkelstein nickte. Wir verstanden uns. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Hör zu, Max. Eines Tages werde ich den Laden übernehmen. Und dann mach ich dich zu meinem Partner.«
    »Gut«, sagte ich. »Aber
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