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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Stiefvater sah es nicht gern, wenn ich mit Itzig Finkelstein, dem Sohn seines Rivalen Chaim Finkelstein, spielte.
    Ich spielte aber gern mit Itzig Finkelstein. Ich zeigte dem Itzig, wie man Rattenfallen aufstellt, wie man lange, schwarze Lakritzstangen in die Weich- und Hinterteile der betäubten Ratten einführt, zeigte ihm den Unterschied zwischen stumpfen und spitzen Nadeln, erklärte ihm, daß ein Regenwurm auch ohne Kopf in sozusagen zerhacktem Zustand weiter beweglich blieb, was bedeutete, daß der Wurm und seinesgleichen das Würmerdasein nicht aufgeben will und letzten Endes die Hand überlebt, die ihn zerschneidet. Ich lehrte ihn das Murmelspiel, machte ihn aufmerksam, daß es nicht auf die Farbe, sondern auf den Umfang der Spielkügelchen ankam, obwohl ich, zum Beispiel, die blauen Mur meln den grünen vorzog und die schillernden den glanzlosen oder stumpffarbenen, erklärte ihm, daß das Loch in der guten Erde, in das wir die Murmeln hineinschubsten, immer größer sein mußte als die betreffenden Spielkügelchen - denn sonst blieben sie stecken -und was stecken bleibt und trotzdem weiterwill, das mußte einen eigenen Willen haben, aber Murmeln haben keinen eigenen Willen; sie zwängen sich nicht vorwärts, stoßen nicht auf eigenen Antrieb in die gute Erde, müßten dann mit Fingerchen dazu gezwungen werden ... und das verstößt gegen die Spielregeln. Ich zeigte ihm auch die Pflastersteine in der Goethe- undSchillerstraße, obwohl er die kannte, aber er kannte sie nicht so wie ich, zeigte ihm, wie man Pflastersteine zählte, welche geeignet waren für's Hinke-pinke-Hüpfspiel und welche ungeeignet.
    Wie man so sagt: Eine Hand wäscht die andere. Mein Freund Itzig Finkelstein zeigte sich erkenntlich. Da wir zur selben Schule gingen, sogar in derselben Klasse waren und auf derselben Schulbank saßen, ließ Itzig mich selbstverständlich von sich abschreiben, half mir bei den Schularbeiten, übte mit mir Kopfrechnen, erklärte mir, warum man nach einem Punkt mit großem Anfangsbuchstaben anfängt: weil der Punkt kein Komma sei, sondern ein Punkt, und der Punkt sei ein Abschluß und bedeute das Ende, und wer nach dem Ende neu anfangen wolle, der solle lieber gleich ganz groß anfangen, denn wer wolle schon klein anfangen?
    Die Eltern meines Freundes Itzig Finkelstein stammten aus Pohodna, einer kleinen jüdischen Stadt in Galizien, waren eines Tages nach Deutschland ausgewandert ... weil, wie mir der Herr Friseur Chaim Finkelstein erklärte, ›die Juden dort in Pohodna am Hungertuch nagten, Deutschland aber ein fortschrittliches Land sei, ein Land der Menschenwürde, wo auch ein Jude sein Brot verdienen und beruhigt und mit Vertrauen der Zukunft entgegensehen könne.‹
    Im Hause Finkelstein wurde jiddisch gesprochen, denn das war die Muttersprache des Herrn Friseurs Chaim Finkelstein und seiner Frau Sara Finkelstein. Jiddisch ist eine Art Mittelhochdeutsch, eine Sprache, die dem deutschen Wesen verwandter ist als unser Hochdeutsch, das ja im Grunde nur - wie mir der Herr Friseur Chaim Finkelstein erklärte - »ein verhunztes, zersetztes, hochgestochenes Jiddisch ist.«
    Ob alle Juden in Wieshalle unter sich jiddisch sprachen? Wollen Sie das wissen? Nein. Nur einige Fami-
      lien, sogenannte Zugereiste. Die anderen sprachen auch zu Hause deutsch. Denn die meisten Juden in Wieshalle waren deutsche Juden, alteingesessen und lebten schon seit vielen Generationen in unserem schönen Vaterland.
    Ich, Max Schulz, rein arischer Sohn der Minna Schulz, lernte bei den Finkelsteins Jiddisch, machte mich mit Hilfe meines Freundes Itzig mit den hebräi schen Schriftzeichen vertraut, begleitete meinen Freund am Samstag in die kleine Synagoge in der Schillerstraße, betete manchmal mit, weil mir das Spaß machte, saß in der Synagoge still neben den Finkelsteins, stand auch manchmal auf, wenn die Gemeinde aufstand, sang mit ihnen mit, wiegte meinen Körper im Rhythmus des Gebets, flüsterte inbrünstig: »Schemach Jisrael Adonai Elohenu Adonai Echat! - Höre, oh Israel: der Herr unser Gott, ist ein einziger Gott!«
    Wir sprachen oft von Jerusalem, Itzig und ich. Einmal sagte ich zu meinem Freund: »Weißt du ... wenn wir erwachsen sind ... dann fahren wir mal rüber. Das gucken wir uns an.«
    Die Straßenjungens in unserem Viertel hatten zwei Fußballmannschaften: eine christliche und eine jüdi sche. Daß ich, als bester Freund von Itzig Finkelstein, in der jüdischen Mannschaft mitspielte, war selbstverständlich. Die
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