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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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nicht mehr. Manche schon alt. Oder sehr alt. Und die anderen standen dort, wo der kleine Junge gestan den hatte. Mit denselben Augen. Und denselben Fliegen auf ihren Augen.
    Und dann erblickte ich ein Kaffeehaus. Das lag an der Straßenecke. In meinem Schädel ruckte etwas. Dort pochten Hämmerchen: ein Kaffeehaus! Und ein plärrendes Radio! Die heiße Sonne! Und Gestank. Und ein namenloses Dorf. Und Lehmhäuser. Und Häuser in Fels gehauen. Und Sand. Sehr viel Sand. Wüstensand. Und eine sterbende Erde. Und brüllende, kleine, hungrige Esel. Und meckernde, kleine, hungrige Ziegen. Und Haut und Knochen. Und Sonne. Und Sand. Und mir war ganz übel.
    In den jüdischen Dörfern hab ich keine kranken Augen gesehen. Und keine grinsenden schwarzen Flie gen, die auf den Augen sitzen und summen. Und tagsüber kein plärrendes Radio gehört. Und keine Männer im Kaffeehaus gesehen, die Fliegen beobachten, kleine, schwarze, eiterfressende, summende Fliegen. In den jüdischen Dörfern, die ich gesehen hab ... ich, der Mas senmörder Max Schulz ... dort hat sich alles, was Eiter frißt, Blut saugt ... und summt ... zum letzten verlore nen Kampf aufgerafft, zum Kampf gegen das Judentum. In den jüdischen Dörfern schreit der vergewaltigte Sumpf um Hilfe, so wie ein Säugling um Hilfe schreit, wenn seine Mutter ihn trockenlegt ... so schreit dort der Sumpf um Hilfe, den die Juden trockenlegen. So ist das. Dort wird der Rückstand vergewaltigt. Und die jüdischen Bauern reißen erbarmungslos mit ihren Harken und Schaufeln der sterbenden Erde den Bauch auf, um sie neu zu beleben.
    Und in den Städten ... in ihren Städten ... da hab ich keine Bettler gesehen ... die sind geflohen. Ich nehmean: vor den Gewerkschaften. Asphaltstraßen haben die Sandwege zugedeckt und Schulen und Spitäler und Fabriken haben Frieden geschlossen ... mit den Wohnhäusern, mein' ich, und den Baumalleen und den Parkanlagen, um gemeinsam, durch einen seltsamen Pakt, das Stadtbild zu beherrschen.
6.
    Wir waren 1600 Illegale ... am 14. Juni ... frühmorgens am Strand. Ich weiß nicht, wo sie sind. Einige kamen nach Pardess Gideon. Auch ich. Auch Hanna.
    Was Hanna macht? Die arbeitet nach wie vor im Hühnerstall. Hanna liebt alles, was Flügel hat. Ich bin noch einmal nach Pardess Gideon zurückgekehrt. Um meine Koffer zu holen! - Da ich erst spät abends ankam, blieb mir nichts anderes übrig, als im Kibbuz zu übernachten. Ich schlief in Hannas Zelt. Eigentlich schlafe ich nicht gern mit Hanna. Sie ist zu mager. Für meine Begriffe. Ich liebe dicke Frauen. So dick wie meine Mut ter. Die hätten Sie sehen sollen! Das war eine Frau!
    Es war dunkel im Zelt. Ich konnte Hanna nicht sehen, spürte nur den Druck ihres schmächtigen Körpers. Ein Feldbett. Zu schmal. Zu schmal für Opfer und Henker. Aber das ... das schien Hanna nicht zu stören.
    »Du hast nichts gesehen, Itzig Finkelstein. Du bist vier Tage lang herumgereist ... und hast überhaupt nichts gesehen.«
    Hanna lachte leise im Dunkeln. Ich weiß, daß sie mich nur herausfordern will. Sie will, daß ich erzähle. Ich will aber nicht.
    »Ich habe eine Menge gesehen, Hanna. Aber ich muß das erst verdauen.«
    »Hast du Jerusalem gesehen?"
    »Ja, Hanna.«
    »Auch die Klagemauer?«
    »Ja. Die auch. Dort hab ich sogar gebetet.«
    »Glaubst du überhaupt an Gott?«
    »Manchmal ja, manchmal nicht... Hanna. So wie die meisten Leute. Ich nehme ihn nicht ernst.«
    »Warum hast du dann an der Klagemauer gebetet?«
    »Aus Tradition, Hanna.«
    »Aus Tradition?«
    »Ja, Hanna. Aus Tradition.«
    »Und was hast du dort gemacht ... vor der Klagemauer?«
    »Geweint, Hanna.«
    »Warum, Itzig?«
    »Aus Tradition, Hanna. Aus Tradition.
    Sieh mal, Hanna. Dort haben andere Juden vor mir gebetet und geweint. Jahrhundertelang und noch länger.
    Ich erinnere mich, Hanna ... schon als Junge ... da stand ich neben meinem Vater in der kleinen Synagoge in der Schillerstraße. Wir beteten. Unsere Blicke waren nach Osten gerichtet. Wir dachten an Jerusalem und an die Reste des Großen Tempels ... die Klagemauer, die für uns alles symbolisiert ... alles ... Hanna ... unsere einmalige Vergangenheit ... Freiheit ... Exil ... Agonie ... Scheintod ... und den Willen zur Wiedergeburt.«
    »Du kannst schön reden, Itzig Finkelstein. Erzähl mir mehr von Jerusalem.«
    »Dort sind zwei Städte, Hanna. Das neue und das alte Jerusalem.«
    »Wie sieht das aus?«
    »Ich kann das nicht beschreiben, Hanna. Die neue Stadt sieht so aus, wie die alte

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