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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Nur so!«
    »Unkonventionell?«
    »Jawohl. Wir können uns sogar duzen. Auch mit dem Vornamen ansprechen. Ich bin bloß Max. Du bist bloß Wolfgang. Verstanden?"
    Der Richter trank seinen Wein, rauchte sich eine Zigarre an ... forderte mich auf, Platz zu nehmen, sagte: »So, Max! Setz dich an meine Seite!« Sagte: »So ein Gerichtsverfahren hab ich noch nie erlebt!«
    Ein Friseursalon! Zwei Herren! In einem Friseursalon! Versuchen Sie ... es so zu sehen: Ein langer Wandspiegel. Vier Augen. Im Spiegel. Die Augen des Richters. Und die Augen des Angeklagten.
    »Schuldig?«
    »Mitgemacht! Bloß mitgemacht! Andere haben auch mitgemacht. Das war damals legal!«
    »Schuldig!«
    »Außerdem hab ich einen Dachschaden, Wolfgang. Vergiß das nicht. Den hab ich immer schon gehabt.«
    »Schuldig!«
    »Jawohl! Schuldig! Ansichtssache! Aber, wenn du willst, Wolfgang, dann mache ich mit. Also: ich bin schuldig!«
    »In diesem Fall ... lautet mein Urteil: Aufhängen!«
    »Wie oft, Wolfgang?«
    »6 Millionen mal!«
    »Wir wissen aber nicht, ob es 6 Millionen waren, Wolf gang. Es könnten etwas mehr gewesen sein, aber auch weniger. Außerdem hab ich sie nicht alle umgebracht. Ich meine: alle 6 Millionen. Ich war ja bloß mitbeteiligt.«
    »Wieviel hast du eigenhändig umgebracht, Max?«
    »Genau weiß ich's nicht, Wolfgang. Ich hab sie nicht gezählt.«
    »Ungefähr, Max?«
    »Ungefähr 10 000. Es könnten aber auch mehr gewesen sein. Oder auch weniger. Nur, um eine runde Ziffer zu nennen: 10 000!"
    »Einigen wir uns, Max!«
    »Jawohl, Wolfgang!«
    »Also: 10 000?«
    »Jawohl, Wolfgang!«
    »Dann lautet mein Urteil: 10000 mal aufhängen!«
    »Hör mal zu, Wolfgang. Du willst mich doch nicht etwa 10 000 mal aufhängen lassen?«
    »Doch, Max!«
    »Das geht aber nicht, Wolfgang. Ich habe nur einen Nacken!«
    »Das stimmt, Max. Was machen wir jetzt?«
    »Ich weiß nicht, Wolfgang.«
    »Dann hängen wir dich eben nur einmal auf, Max!«
    »Das geht nicht, Wolfgang.«
    »Und warum soll das nicht gehen, Max?«
    »Weil wir uns doch was vorgenommen haben, Wolf gang!«
    »Was denn, Max?«
    »Eine Lösung zu finden, die meine Opfer zufriedenstellt.«
    »Na und, Max?«
    »Die wären aber nicht zufrieden mit so einer Strafe.«
    »Wie meinst du das, Max?«
    »Mein Tod wäre nur ein Tod. Ein Tod für 10 000 Tode. Das wäre ungerecht.«
    »Das ist ein Problem, Max.«
    »Ja, Wolfgang. Das ist ein Problem!«
    »Nehmen wir an, Wolfgang ... nehmen wir an: ich hätte 10 000 Hälse. Und du könntest mich 10 000 mal aufhängen lassen. Glaubst du, daß meine Opfer damit zufrieden wären?«
    »Ich weiß nicht, Max. Muß mir das überlegen."
    »Bestimmt nicht, Wolfgang. Meine Opfer wären damit nicht zufrieden.«
    »Warum nicht, Max?«
    »Was hätten sie davon, Wolfgang? Sie sind tot!«
    »Ja, Max.«
    »Sie wachsen zwar hier als Bäume, Wolfgang. Aber das ist doch nicht dasselbe.«
    »Wie meinst du das, Max?«
    »Ich meine ... das ist doch ein anderes Leben ... nicht dasselbe, das ich, Max Schulz, getötet habe.«
    »Das versteh ich nicht, Max.«
    »Denk mal nach, Wolfgang. Was ich getötet habe, das kann ich nicht zurückgeben. Auch wenn ich wollte. Ich kann's aber nicht ... Verstehst du das, Wolfgang. Ich kann nicht. Das steht nicht in meiner Macht.«
    »Na und, Max?«
    »Was heißt... na und? ... Wolfgang! Warum kapierst du das nicht. Das wollen sie doch. Meine Toten. Meine Opfer. Ihr Leben zurück! Sie wollen nicht, daß man mich aufhängt. Oder erschlägt. Oder erschießt. Auch nicht 10 000 mal. Die wollen doch nur ihr Leben zurück. Weiter nichts. Und das kann ich nicht, Wolfgang. Das, Wolfgang, kann ich, Max Schulz, ihnen nie zurückgeben. Ich kann nicht mal die Todesangst streichen, und auch nicht das Vorspiel der Todesangst. Es geht nicht, Wolfgang. Es gibt keine Strafe für mich, die meine Opfer versöhnen könnte.«
    Unsere Stimmen wurden leiser. Nur der Nachklang unserer Worte sauste im Raum herum, schwirrte verzweifelt gegen die blanken Spiegel und traf unsere Augen, die Augen im Spiegel, die suchten, was sie nicht finden konnten.
    Der Richter war ratlos. Ich bot ihm noch Wein an, aber er lehnte ab. Wir schwiegen lange Zeit. Dannsagte der Richter: »Am besten, wir vertagen den Prozeß!«
    Ich sagte: »Vertagen nützt nichts. Es gibt keine Lösung. Auch nicht beim nächsten Prozeß!«
    Wir fingen wieder an, Karten zu spielen. Keiner wollte nach Hause.
    Der Richter überlegte. Er suchte nach einer Lösung. Ich sah es ihm an. Er konzentrierte sich

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