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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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eine Bemerkung machte, die mich, den bürgerlichen Friseur, der früh zu Bett geht und nicht spät, die Zeit vergessen ließ. Der Richter sagte: »Ohne Schwanz haben sie ihn begraben und ohne Kopf! Hat's auch nicht besser verdient!«
    Ich fragte: »Wer?«
    Und der Richter sagte: »Max Schulz!«
    Ich weiß nicht, warum der Richter davon anfing. Offenbar hatte er, der Richter, noch keine Lust nach Hause zu gehen, in das einsame Zimmer, das einsame Bett, hatte keine Lust, vier kahle Wände anzustarren und eine kahle Zimmerdecke, wollte noch ein bißchen plaudern, wußte ... daß ich ... Itzig Finkelstein ... die Zeit vergessen würde, vergessen würde, daß es fast zehn Uhr war, daß ich ein bürgerlicher Mensch war, daß meine Frau zu Hause wartete ... wußte, daß ich bleiben würde, mit ihm plaudern würde ... wenn er davonanfing ... von Max Schulz zu sprechen anfing ... wußte ... daß dieses Thema meine schwache Seite war, und nützte diese meine Schwäche aus.
    Der Richter fing an, sich über den Tod des Max Schulz lustig zu machen, besonders über den abgeschnittenen Kopf und über den abgeschnittenen Schwanz, schielte mich belustigt an, reizte mich, und brachte mich schließlich dazu ... eine unbedachte Bemerkung zu machen. Ich sagte: »Der ist nicht tot! Der lebt! Der ist munter wie ein Sabbatkarpfen, den ›sie‹ nicht erwischt haben!«
    »Und woher wissen Sie das so genau?«
    Ich sagte wütend: »Das weiß ich eben!«
    »Ich kann Sie verstehen, Herr Finkelstein! Sie suchen ihn. Suchen ihn in Gedanken. Sie sind nicht zufrieden, daß er, Max Schulz, ohne Prozeß gestorben ist. Einfach so! Ich kann das verstehen. Sie wünschen, daß er lebt, daß man ihn schnappt, verurteilt, hinrichtet. Sie be schäftigen sich mit ihm. Kann ich verstehen. Schließlich glauben Sie, daß er Ihre Eltern umgebracht hat. Und daß er Sie auch umgebracht hätte, wenn Sie, Herr Finkelstein, dort gewesen wären, in jenem KZ ... in Laubwalde. - Aber der ist tot! Erledigt ... aus! Der ist im polnischen Wald erfroren. Und der ist gefunden worden. Und ohne Kopf! Und ohne Schwanz!«
    Fantasielosigkeit amüsiert mich zuweilen, wenn es sich um eine Frau wie Frau Holle handelt. Aber von einem Mann wie Amtsgerichtsrat Wolfgang Richter hätte ich, ehrlich gesagt, mehr erwartet. Ich war ärgerlich. Ich sagte:
    »Für Sie sind die Dinge einfach. Sie wollen sich Gedankenarbeit ersparen. Typisch für einen kleinen Amtsrichter. Max Schulz ist erfroren. Tot. Fall erledigt. Ich sage Ihnen aber, Herr Amtsgerichtsrat ... daß dieDinge viel komplizierter sind, als Sie, Herr Amtsgerichtsrat, sich die komplizierten Dinge vorstellen.«
    Wir hatten uns wieder an den Kartentisch gesetzt.
    Ich sagte: »Im polnischen Wald ist es kalt. Im Winter, mein' ich. Und damals war's Winter. Und damals war's kalt. So kalt, daß einem die Spucke im Mund einfror. Und die Tränen auf den Wimpern. Auf den Wimpern. Jawohl. Und wohin hätte Max Schulz gehen sollen? Der Wald wimmelte von Partisanen. Und die Rote Armee, die war auch schon angelangt. Am Abend zuvor. Und im Morgengrauen hatte sie den Wald besetzt. Die Rote Armee, mein' ich. Wohin hätte er gehen sollen, der Max Schulz? Etwa zu den Bauern? Die hätten ihn bei lebendigem Leibe geschlachtet. In ihren Katen!«
    Ich holte tief Atem und sagte dann: »Logischerweise hätte Max Schulz im Wald sterben müssen. Denn der polnische Wald ist ein polnischer Wald. Dort kommt so einer nicht mehr raus. Nicht unter den Umständen, damals. Denn es ist anzunehmen, daß er keinen Proviant hatte ... oder keine Zeit hatte, Proviant mitzunehmen ... sprang ja vom Lastauto runter ... so wie Hans Müller ... das ist bekannt ... oder das war bekannt ... sprang runter und rannte! Und ohne Essen! Und ohne Unterschlupf! Und die Hundekälte in Polen! Verhungert! Erfroren! Fertig! Erledigt! - Aber so einfach sind die Dinge nicht, Herr Amtsgerichtsrat!«
    Ich lachte höhnisch und fuhr dann fort: »Max Schulz rannte in den Wald hinein. Und suchte sich später einen Bunker, Partisanenbunker, einer, der verlassen war, fand zufällig einen, stolperte sozusagen hinein. Und dort war's warm. Oder: nicht warm, aber nicht so kalt wie draußen oder oben. Verstehen Sie das? Und dann ... am nächsten Morgen ... da kroch Max Schulz aus dem Bunker heraus ... irrte eine Zeitlang im Wald herum ... fand auch die Toten ... seine Kameraden ... hielt sichaber nicht auf ... bei den Toten, mein' ich ... sondern ging weiter oder irrte weiter ... und suchte und fand eine

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