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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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nicht auf die Karten. Nicht so wie sonst. Wir spielten noch zwei Runden. Dann nickte der Richter ein.
    Versuchen Sie, uns zu sehen! Zwei ratlose Männer. Sie haben ein Spiel gespielt. Sie sind müde. Besonders der Richter. Er ist eingenickt. Und er wacht wieder auf. Er blickt mich an. Er sagt: »Max Schulz. Es gibt keine Lösung. Das ist ein schäbiges Spiel.«
    Ich sage: »Ein Urteil muß gefällt werden!«
    Und der Richter sagt: »Ich bin müde. Mir fällt jetzt nichts ein. Und das ist ein schäbiges Spiel. Und ich bin ein alter Mann.«
    Ich frage: »Soll ich das Urteil fällen?«
    Und der Richter nickt, sagt: »Ich bin müde. Was ist das Urteil?«
    Ich sage: »Freispruch!«
    Und der müde alte Mann nickt... sagt: »Freispruch!"
10.
    Der Richter läßt sich täglich rasieren: Gesicht und Schä del. Grinst, wenn er ins Geschäft kommt. Begrüßt mich jeden Morgen: »Schalom, Herr Schulz! Wie geht's, Herr Schulz? Warum heißt Ihr berühmtes Haarwuchsmittel: ›Samson V 2‹? Und was haben Samsons Haare mit der deutschen Rakete zu tun? Und glauben Sie, Herr Schulz, daß ich das mal probieren soll? In meinem Alter? Und wozu brauche ich eigentlich Haare? Ein alter Mann? Und wem soll ich noch gefallen? Was sagen Sie dazu, Herr Schulz?«
    Die Kunden im Friseursalon ›Der Herr von Welt‹ kennen unser Spiel, reißen Witze oder bedauern mich. Der Herr Bürgermeister Daniel Rosenberg hat mir seinen Hausarzt empfohlen. Sagte: »Der ist zwar kein Psychiater, sondern ein Wald- und Wiesenarzt. Aber ein Mann mit Herz. Dem sollten Sie sich anvertrauen.«
    Nicht mal meine Frau nimmt mich ernst. Ich habe einige Wochen gestreikt. Wenn wir Besuch haben, ziehe ich mich zurück. Wohin? In mein Studier- und Arbeitszimmer. Ich will meine Ruhe haben.
    Ich gehe jetzt oft in den Wald der 6 Millionen! Rede zu den Bäumen, erzähle ihnen Geschichten, erzähle vom Salz der Erde, das kein Salz ist, sondern bloß Staub ... der Staub der Gewesenen, der Geschöpfe Gottes, derkein Gott ist. Ich erzähle vom Staub, der wandert. Ich erzähle vom wandernden Staub.
    - »Und eines Tages langte der Staub an. Und verwandelte sich.«
    Ich erzähle vom Wachsen und Werden. Und wie Menschen und Pflanzen Wurzeln schlagen. Und warum.
    Ich saß im Schatten der Bäume und ließ mich reizen. Sagten zu mir, die Bäume: »Eines Tages wirst du ster ben. Du bist nicht mehr der Jüngste, Max Schulz!«
    Ich sagte: »Das hab ich auch nicht behauptet. Obwohl man heutzutage nicht alt ist ... mit 61. Die Menschen leben heutzutage länger.«
    Und die Bäume sagten: »Das stimmt!«
    Und ich sagte: »Das stimmt!«
    Und die Bäume sagten: »Aber eines Tages wirst du sterben.«
    Und ich sagte: »Klar. Einmal muß jeder dran glauben.«
    Ich ließ die Bäume raten. Hab zu ihnen gesagt: »Strengt euch ein bißchen an. Stochert doch mal rum in der Baumgrütze! Wie werde ich sterben? Versucht sie doch mal rauszukriegen: die Todesursache!«
    Und die Bäume sagten: »Das ist uns völlig egal!«
    Ich sagte: »Trotzdem! Ratet mal. Das ist doch nur ein Spiel!«
    »Du wirst geschnappt und gehängt«, sagten die Bäume.
    Ich lachte. Sagte: »Das wäre unwahrscheinlich. Die meisten Massenmörder leben auf freiem Fuß. Manche im Ausland. Die meisten wieder in der alten Heimat. Habt ihr keine Zeitung gelesen? Es geht ihnen gut, den Mas senmördern! Die sind Friseure. Oder was andres. Viele haben eigene Geschäfte. Viele besitzen Fabriken. Sind Industrielle. Viele machen wieder Politik, sitzen in der Regierung. Haben Rang und Ansehen. Und Familie.«
    Ich grinste und sagte: »Wahrlich, ich sage euch. Das ist die volle Wahrheit. Sie leben auf freiem Fuß und machen sich über Gott und die Welt lustig. Ja. Und auch über das Wort ›Gerechtigkeit‹!«
    Ich sagte zu den Bäumen: »Ihr müßt euch schon was besseres einfallen lassen. Etwas, das wahrscheinlicher ist.«
    Ich sagte zu den Bäumen: »Ich könnte, zum Beispiel, an einem Sabbatabend sterben! Meine Frau macht nämlich guten Fisch. Am Sabbat. Ein Fisch, wie ihre Mutter ihn gemacht hat in Wapnjarka-Podolsk. Ich könnte, zum Beispiel, ... eine Fischgräte verschlucken. Könnte dabei ersticken. Das wäre wahrscheinlicher!«
    Ich sagte: »Ich könnte auch was andres verschlucken: einen großen Knochensplitter. Das wäre auch wahrscheinlicher!«
    Ich sagte: »Ich könnte ausrutschen. Auf der Straße. Das wäre auch wahrscheinlicher!«
    Ich sagte: »Könnte an einer Krankheit sterben! Das wäre möglich! Oder vor Altersschwäche. Das wäre auch

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