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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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möglich! - Höchstwahrscheinlich aber wird es das Herz sein ... wie man so sagt: ein Herzinfarkt. Heutzutage das übliche.«
    Ich sagte: »Das könnte nachts passieren. Im Schlaf. Und ich würde es nicht mal merken.
    Und es könnte natürlich auch am Abend passieren. In meiner Wohnung. Und zwar: fünf Minuten vor zehn. Vor dem Einschlafen. Da mach ich's manchmal mit mei ner Frau. Fünf vor zehn. Immer pünktlich. Als bürgerlich gesinnter Mensch. Nur vor dem Einschlafen. Wir haben das so vereinbart: ab und zu, nicht zu oft. Und einmal könnte mein Herz versagen. Möglich ist das schon!"
    Ich sprach noch lange zu den Bäumen, machte Vorschläge, wollte, daß sie wählen: meine Todesursache. Aber die Bäume konnten sich zu nichts entschließen.
11.
    Gestern - nach dem Mittagessen - lag ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, wollte mein gewohntes Mittagsschläfchen halten, konnte aber nicht einschlafen, lag bloß so da, mit halb geschlossenen Augen.
    Es war drückend heiß. Hamsinwetter. Ostwind. Kommt aus der arabischen Wüste, um Menschen und Tiere und Pflanzen zu quälen. So ist das. Die Araber wagen es nicht, ihre Flugzeuge zu schicken. Aber sie schicken uns ihren Wind.
    Ich lag auf dem Sofa, hatte Atembeschwerden und befürchtete schon das Schlimmste. Meine Frau rumorte in der Waschküche. Durch die halboffene Tür kam Was serdampf ins Wohnzimmer, kroch an den Wänden entlang, schlich um mein Sofa herum und hüllte mich schließlich ein.
    Ich hatte einen Wachtraum. Es kam mir vor, als läge ich wirklich im Sterben.
    Am Telefon die aufgeregte Stimme meiner Frau: »Herr Doktor. Es ist passiert. Mein Mann! Ein Herzinfarkt! Nach dem Mittagessen! - Was? Was sagen Sie? Eine Herzverpflanzung? Sie haben drei Araber auf Lager? Und zwei Touristen? Einen Engländer und einen Deutschen? Fünf Herzen stehen zur Verfügung? Moment mal. Ich muß meinen Mann fragen. Ja. Er kann noch flüstern.
    Kommt gar nicht in Frage, Herr Doktor. Ich habe mei nen Mann gefragt. Kommt nicht in Frage. Er will kein arabisches Herz. Auch kein englisches. Und erst recht kein deutsches. Mein Mann will ein jüdisches Herz!
    Was sagen Sie? Sie haben keine auf Lager? Keine jü dischen Herzen? Nicht mal eines?
    Wie bitte? Vielleicht morgen? Oder übermorgen? Passiert immer mal was? Im besetzten Gebiet? Eine Mine? Eine Bombe? Schüsse aus dem Hinterhalt? Es könnte auch sein, daß jemand im Bett stirbt? Das auch? Abwarten?
    Was sagen Sie? Ein Glücksfall? Gerade ist jemand ge storben? Noch nicht gestorben? Liegt bloß im Sterben? Will sein Herz spenden?
    Wie bitte? Und was sagen Sie? Ein Rabbiner? Das Herz eines Rabbiners? Und ob mein Mann einverstanden ist?«
    Ich liege auf einer Tragbahre. Man trägt mich fort. Ich verliere das Bewußtsein. Ich wache dann wieder auf.
    Wo bin ich? Wahrscheinlich im Hadassa-Spital. In irgendeinem Zimmer für schwere Fälle. Ich kann nichts sehen. Nur Nebel. Nichts als Nebel. Aber ich höre Stim men. Irgendwelche Stimmen.
    »Er war lange bewußtlos. Er weiß nicht mal, daß er operiert wurde. Weiß überhaupt nichts.«
    »Stimmt das? Er hat jetzt das Herz eines Rabbiners?«
    »Das stimmt!«
    »Wer war das?«
    »Ich weiß nicht. Ein Rabbiner.«
    »Wird er am Leben bleiben?«
    »Ich glaube nicht. Irgendwas hat nicht geklappt.«
    »Er liegt also ... wieder im Sterben?«
    »Ja.«
    Stimmen, Stimmen, Stimmen: »Ja. Ja. Ja."
    »Ja.«
    »Ja. Ja. Ja.«
    Was ist das nur, zum Teufel? Ich höre keine Stimmen mehr. Ich sehe nichts. Es ist dunkel. Es ist still.
    Nein. Ich sehe nichts. Und doch sehe ich. Ich kann mir Dinge vorstellen:
    Ich sehe, wie meine Gedanken aus der Dachschaden ecke herausschlüpfen, sich befreien, um die Augäpfel herumschleichen, aus den Froschaugen quellen, hervorquellen, zu schweben anfangen, im Raum herumschwe ben, an der Zimmerdecke hocken, mich anstarren, mir etwas zuflüstern.
    Amtsgerichtsrat Wolfgang Richter sagt: »Max! Du liegst in den letzten Zügen!«
    Und meine Gedanken, die an der Zimmerdecke hokken , längst herausgeschlüpft aus der schleimigen Masse, aus dem grauen Brei hinter den Froschaugen ... die sagen: »Ja. Ich weiß, Wolfgang.«
    »Ich konnte dich hier nicht verurteilen, Max. Nicht hier auf Erden. Aber ich hab mir was ausgedacht.«
    »Und was hast du dir ausgedacht, Wolfgang?«
    »Was ganz Originelles!«
    »Und was ist das?«
    »Ich überantworte dich einem anderen Gericht.«
    »Das ist nichts Originelles.«
    »Ich hab dich dem lieben Gott überantwortet, Max.«
    »Den gibt's vielleicht

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