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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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fort.‹
    ›Und was schlägst du vor?‹ fragte ich.
    ›Abwarten, bis es Frühling wird‹, sagte die Alte. ›Wir können hier beide von den Lebensmitteln leben, die ich einmal wöchentlich aus dem Dorf hole, wenn wir uns das ein bißchen einteilen. Im Frühling kannst du dann losmarschieren. Ich werde vorher deine Stiefel verkaufen und deine Uhr und dafür eine Menge Lebensmittel eintauschen. Wir teilen dann ehrlich. Genug für mich.
    Und auch genug für dich, um dich bis nach Deutschland durchzuschlagen.‹
    Wir tranken mehr Wodka. Trotzdem wurde ich die Angst nicht los. Die Alte hatte natürlich recht. Ich saß hier fest. Es war das einzig Vernünftige: abwarten, bis es Frühling wurde. Vielleicht war der Krieg im Frühling vorbei. Dann konnte ich losmarschieren. Ich würde ihr gern die Uhr geben und auch die Stiefel. Aber sicher log die Alte und wollte mich bloß in Sicherheit wiegen. Warum sollte sie mich auch bis zum Frühling ernähren? Ein nutzloser Esser! Sie würde mir nachts den Hals durchschneiden. Und die Uhr einfach wegnehmen! Und auch die Stiefel! Oder nicht? Hatte sie etwas anderes mit mir vor?
    Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu, lag auf der langen Bank in der Küche, hörte die Alte im Nebenzimmer schnarchen, stand ab und zu auf und schürte das Feuer im Küchenherd. Draußen vor dem Fenster heulten die Wölfe, und der Wind sang in den Bäumen. Ich hätte die Alte natürlich umbringen können. Aber wer sollte mich dann bis zum Frühling mit Lebensmitteln versorgen? Ich konnte unmöglich ins Dorf. Brauchte also die Alte.
    Da war noch die Ziege, die, wie ich herausgefunden hatte, Katjuscha hieß! Aber die war mager und winzig wie ein Lamm. Wenn ich die Alte umbrächte, fiel mir ein, dann könnte ich die Ziege schlachten und von der Ziege leben. Aber wie lange? Eine kleine, magere Ziege? Nein! Ich war auf die Alte angewiesen. Ich brauchte sie. Die Alte konnte mit mir machen, was sie wollte. Sie konnte mich ernähren bis zum Frühling. Sie konnte mich unter dem Bett oder sonstwo im Hause verstecken, wenn die Partisanen hier vorbeikamen ... oder der Iwan ... sie konnte mich beschützen. Sie konnte mich aber auch anzeigen. Ich war völlig von ihr abhängig.
    Daran dachte ich die ganze Nacht.
    Am nächsten Morgen sagte die Alte zu mir: ›Du könn test mich umbringen. Aber das würde ich dir nicht raten!‹ - Als hätte sie meine Gedanken gelesen.
    Ich sagte: ›Weil du mich mit Lebensmitteln versorgst … ?‹
    ›Nicht nur deshalb‹, sagte die Alte. ›Meine Stieftoch-ter ist es gewohnt , daß ich jede Woche ins Dorf komme. Wenn ich plötzlich wegbliebe, dann würde sie sofort herkommen, um nachzusehen, was mit mir los ist. Das wäre peinlich für dich. - Und wenn du auch meine Tochter umbringst, bevor sie zur Polizei geht, dann würde dir das auch nichts nützen. Denn das würde im Dorf sofort auffallen. Man würde nachforschen. Du könntest dann nicht mehr hier wohnen.‹
    Ich sagte: ›Veronja ... wie kommst du auf solche Gedanken? Warum sollte ich dich denn umbringen? Oder deine Stieftochter? Oder euch beide? Das würde sofort auffallen! Das weiß ich doch!‹
    ›Im Frühling kannst du fort‹, sagte die Alte. ›Und bis zum Frühling mußt du machen, was ich will!‹
    ›Was willst du von mir?‹ fragte ich.
    ›Das wirst du schon sehen‹, sagte die Alte.
    Während des Essens tranken wir wieder viel Wodka. Die Alte hatte noch einige Flaschen auf Lager ... aus besseren Zeiten. Ich kam in Stimmung, obwohl die Angst doch irgendwie da war, aber das ließ ich mir nicht anmerken. Ich erzählte der Alten, daß ich jahrelang in aller Früh den Himmel angebrüllt hatte, und ich zeigte ihr, wie ich das gemacht hatte. Ich brüllte: ›Es werde Licht! Es werde Licht! Es werde Licht!‹ Die Alte sagte: ›Du bist besoffen!‹
    Und ich sagte: ›Und der Himmel hat immer gehorcht!‹
    ›Jetzt auch noch?‹ fragte die Alte.
    Jetzt auch noch‹, sagte ich großspurig.
    ›Das glaub ich nicht‹, sagte die Alte.
    ›Doch‹, sagte ich. ›Das kann ich beweisen.‹
    ›Dann beweise es‹, sagte die Alte.
    ›Gut‹, sagte ich. ›Wann immer du willst.‹
    ›Morgen in aller Früh‹, sagte die Alte. ›Ich werde dich aufwecken. Vor Tag. Und dann kannst du meinetwegen den Himmel anbrüllen. Soviel du willst. Aber wehe, wenn du gelogen hast!‹
    Ja. Und das war so:
    Die Alte weckte mich am nächsten Morgen, bevor es dämmerte. Ich zog meine Uniform an und die Stiefel. Wir öffneten eines der Fenster,

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