Der Nazi & der Friseur
... ein anderer Tee ... aus anderen Kräutern, die, nach Veronjas Angaben, das Herz stärken würden. Veronja sagte mir nicht, woher sie die Kräuter hatte, denn das war ihr Geheimnis, aber sie erwähnte so nebenbei, daß der Tee nicht nur aus Kräu tern, sondern aus einem Zusatz von Gemahlenem bestün de: Knochenmehl gefangener und getöteter Waldvögel, Maulwürfe und Waldmäuse, auch einem Zusatz von Käferaugen und dem Staub getrockneter Sommerfliegen.
Veronja massierte meine Beine, meinen Bauch, mei nen Rücken, machte Herz- und Nackenmassagen. Mit tags fühlte ich mich bereits besser, wollte nicht mehr auf der Küchenbank liegen, stand auf und nahm meine Mahlzeiten wie üblich mit Veronja am Küchentisch ein: Borschtsch, Kartoffeln, Brot und Wodka ... wenn auch mein Appetit noch viel zu wünschen übrigließ ...
Am Nachmittag öffnete Veronja eines der Fenster, befahl mir, nicht auf die Eisblumen zu schauen, sondern auf den Wald, befahl mir tief zu atmen, Hände in die Hüften zu stemmen und drei Kniebeugen zu machen. Ich tat, wie mir geheißen. Dann mußte ich dreimal um den Küchentisch herumlaufen, später: Holz zerkleinern, Ofen säubern und andere Hausarbeiten verrichten, um die Blutzirkulation zu fördern.
Am Abend fühlte ich mich wieder ganz bei Kräften, aß mit gesundem Appetit, trank Wodka, kam in Stimmung, mußte Veronja deutsche Lieder vorsingen, Hacken zusammenklappen, ›Sieg-Heil‹ brüllen, um zu bestätigen, daß ich wieder in Ordnung war ... reif für die nächste Orgie mit Veronja, die mich umbringen wollte.
Nachts wurde ich wieder von Veronja aus tiefem Schlaf geweckt, mußte ins andere Zimmer, mußte Tee trinken - den Liebestrank ... nicht den Genesungstrank ... mußte wieder Nummern schieben ... 7 Nummern.
In den nächsten Tagen und Nächten wiederholte sich alles. Nachts entzündete Veronja ein künstliches Feuer in meinen Lenden, umschlang mich, wollte mich aufsaugen, wälzte sich lüstern und stöhnend auf der riesigen Strohmatratze ... tagsüber jedoch spielte sie die Krankenpflegerin, gab mir Genesungstee zu trinken, sorgte für meine Blutzirkulation, pflegte mich, goß mir Wodka ein und gab mir tüchtig zu essen.
In der siebenten Nacht kriegte ich den erwarteten Herzinfarkt. Und zwar: kurz vor Tag.
Veronja stieß mich von ihrem Bett herunter, schleifte mich in die Küche, hob mich mit Hilfe des rußigen Feu erhakens auf meine Schlafbank, legte mich auf den Rücken, stellte die flackernde Petroleumlampe zu meinen Füßen hin, wartete, bis es draußen dämmerte, löschte dann die Lampe, hockte sich neben die Bank ... unter das Fenster ... unter die Eisblumen ... fahl im Gesicht ... fahl wie die Dämmerung ... hatte stechende Augen ... Augen wie Schwerter und Brennesseln ... hatte auch einen Mund ... schmal und grinsend ... hatte auch große Zähne.
Ich sah Veronja durch einen Nebelschleier, lag röchelnd auf dem Rücken, hatte die Augen weit aufgerissen, dachte, ich würde sterben, hörte Geigen und Harfen, sah die Englein auf der Fensterscheibe, dort wo die Eis blumen waren ... sah die Englein sitzen ... in den Blumenkelchen ... singen und spielen und warten ... sah auch Slavitzki ... sah mich als Säugling ... sah meinen Hintern ... rosarot... sah meine Mutter ... hörte sie bellen ... bemerkte irgendwie, daß Veronja wegschlich, hörte das Schüren des Feuerhakens ... wußte, daß Veron ja Feuer machte ... dachte an den großen Kochtopf ... sah mich bereits gekocht .... guckte selber in die dicke Brühe ... sah meinen Hintern ... nicht den Hintern des Säuglings ... sah den Hintern des Massenmörders ... sah meine Augen ... sah Millionen Augen ...«
»Und was war dann?« fragte Frau Holle. »Warum sind Sie nicht gestorben? Das wäre doch besser gewesen?«
»Ich durfte nicht sterben«, sagte Max Schulz. »Das ist es ja eben. Veronja wollte mich gar nicht umbringen. Das begriff ich erst auf der Bank ... als die Englein erschienen in den festgefrorenen Blumenkelchen der Eisblumen. Ich sollte nur gequält werden. Nichts weiter. Veronja wollte mir irgend etwas klarmachen.
... Und dann begann ich mich langsam zu erholen«, sagte Max Schulz. »Es war inzwischen März geworden. Oder zumindest Ende Februar. Die Sonnenstrahlen wärmten schon um die Mittagszeit. Die Eisblumen hatten Angst vor der Sonne und pinkelten entsetzt auf die Fensterscheiben. Im Wald taute der Schnee, fror aber nachts wieder zu.
Wenn die Sonne hoch am Himmel stand, öffneten wir die Fenster. Zuweilen
Weitere Kostenlose Bücher