Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
Vom Netzwerk:
Gräfin. Und die raucht eine Zigarre.
    Gedämpftes Licht. Kerzen natürlich. Kleine, zucken de, flackernde, blinzelnde Flämmchen ... die Schatten werfen, wie das Flämmchen der Kerze in Frau Holles Keller ... aber andere Schatten und viel mehr, denn es sind ja viele Kerzen. Und die ersetzen die Sonne, weil sie schläft. Und den Mond, der nicht in jeden Keller guckt. Und das elektrische Licht, das gelöscht wurde.
    Erhitzte, verschwommene Gesichter. Kellner im Smoking. Sekt! Der fließt hier aus deutschen Bierfässern ... Im Hintergrund: Zigeunermusik. Russische. Rumänische. Ungarische. Auch jüdische.
    Traurigkeit. Erinnerungen.
    Rauch, Musik, Sekt. Und die Gräfin ...
    Soll ich Ihnen die Gräfin beschreiben? Für mich war sie bloß blond. Vielleicht auch groß. Also groß und blond. Mehr nicht. Mehr sah der Itzig nicht. Eine große, blonde Frau. Eine Gräfin. Aber mein Tischnach bar, ein frommer Mann, ehemaliger Klosterbruder, dann Wanderprediger, der jetzt Schwarzmarkt machte ... so wie Gläubige und Ungläubige ... der konnte mehr sehen als ich. Und der beschrieb sie mir.
    »Gucken Sie mal richtig hin, Herr Finkelstein«, sagte mein Tischnachbar. »Und was sehen Sie?«
    »Eine blonde, große Frau«, sagte ich. »Mehr nicht.«
    »Sehen Sie nicht, wie pervers die ist?«
    »Nein«, sagte ich. »Das seh ich nicht.«
    »Gucken Sie mal ihre Augen an. Sehen Sie nichts?«
    »Nein«, sagte ich. »Nichts.«
    »Da steht doch alles drin«, sagte mein Tischnachbar, der Klosterbruder und Wanderprediger. - »Heulende Negersklaven. Und lachende. Reitpeitschen. Pferdehufe. Blut. Weiße Leinentücher mit roten Pünktchen. Bunte, schweißbedeckte Kissen. Ein Gesäß oder Hintern oder Hinterteil oder Steißbein oder Sterz oder verlängerter Rücken oder Podex oder Popo oder After oder Anus oder Arsch ... aus zartestem Fleisch und Pfirsichhaut. ›Domini creatio magnifica!‹ - Und dort steckt was drin: männlich, sehnig, kuppelig, froschartig, augenlos, zielbewußt, lautlos schreiend, beschnitten. Und was sich so vereint, das lacht und stöhnt und schreit, obwohl das nur die Engel hören können. Und sehen Sie nicht, Herr Finkelstein ... spiralenförmige Bewegungen ... und eine feuchte Zunge und vogelknochenartig-zerbrechliche, lange, stammbaumgeprägte, glattgezupfte Frauenbeine ... und den Stiernacken des Mannes? Und alles ineinander verschlungen? Und die Beine lachen die Zunge aus und wollen dem Mann das Genick brechen! Und zartestes Fleisch und Pfirsichhaut saugen ihm das Mark aus den Knochen. Und die Knochen sind die letzten einer Kette, die Jahrtausende alt ist, mit angeschlagenen und angespuckten Gliedern! Und das stumme, geduldige Bett. Und der Sternenhim mel hinter dem Fenster. Und sehen Sie nicht den Rosen kranz? Und die Thorarolle? Und Christus ohne Kreuz? Christus befreit? Nackt? Mit gerecktem Glied? Christus, der das Fleisch entdeckt hat?«
    Ich sagte: »Verdammt und zugenäht! So hab ich noch niemanden reden hören!« Fragte mich: »Wessen Glied steckt im Hintern der nordischen Gräfin? War Christus beschnitten? Ist es Christus? Oder der, der Christus verleugnet? Oder du? Und wer bist du? Und bist du nicht auch beschnitten? Aber hast du Christus nicht umgebracht?«
    »Wovon lebt die Gräfin?« fragte ich meinen Tischnachbarn.
    »Sie war mal sehr reich«, sagte mein Tischnachbar, der Klosterbruder und Wanderprediger ... »Güter, Landbesitz, auch ein Schloß. Alles im Osten. Vom Iwan überrannt. Alles verstaatlicht.«
    »Lebt sie jetzt vom Schwarzhandel?«
    »Indirekt«, sagte mein Tischnachbar. »Sie ist die Mätresse eines Schwarzhändlers.«
    Ich sagte: »Ach so ...«
    »Eigentlich war sie die Mätresse. Sie ist es nicht mehr, weil der Schwarzhändler vorige Woche gestorben ist. Herzinfarkt. Ein ganzer Waggon schwarzer Zigaretten, der in die Hände der MP fiel. Das kann das Herz nicht vertragen.«
    Ich, Itzig Finkelstein, lebe in ständiger Angst vor einem neuen Herzinfarkt. Trotzdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen! Alles war klar: ich wollte die Gräfin zu meiner Mätresse machen! Tagelang wanderte ich wie im Traum durch die Ruinen Berlins, machte auch weite Spaziergänge in die Vororte ... nicht ganz so zertrümmert ... sah mir vereinzelte Villen an ... erlebte den ersten Schnee Ende 1945 ... dachte an das neue Jahr ... dachte an Itzig Finkelstein ... den echten ... den toten ... und an den falschen ... dachte an meine krumme Nase ... und an mein beschnittenes Glied ... dachte, wie das wohl sein

Weitere Kostenlose Bücher