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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Auschwitz deportiert.
    Auschwitz! Ja ... dort wurden die Leute vergast. Aber nicht alle. Ich wurde einem Arbeitskommando zugeteilt. Ich, Itzig Finkelstein.
    Und die Front kam näher. Die kam immer näher. Und eines Tages wurde Auschwitz von den Russen befreit.
    Ob ich auch in Auschwitz von den Russen befreit wurde? Nein, meine Herren. Ein Teil des großen Durch gangslagers von Millionen wurde kurz vorher evaku iert. Wohin? Richtung Deutschland! Wissen Sie, was ein Todesmarsch ist? Ich kann das nicht beschreiben. Aber den hab ich mitgemacht. Unterwegs gelang mir die Flucht.
    Ich flüchtete zurück nach Polen. In den Wald natür lich. Wohin sonst. Und eines Tages ... ja ... eines Tages wurde der Wald von den Russen überrollt. Ich, Itzig Finkelstein, war frei. Der Iwan hatte mich befreit.
    Aber ich traute dem Iwan nicht. Und ich wollte auch nicht beim Iwan bleiben.
    Nein, meine Herren. Ich habe zwar einen Dachschaden. Aber so schlimm ist das gar nicht: Ich, Itzig Finkelstein, bin doch nicht so dumm und bleibe beim Iwan! Ich, Itzig Finkelstein, gehe nach Berlin! Wohin in Berlin? In den amerikanischen Sektor natürlich!
    Wir aus Wieshalle waren eine kleine, isolierte Gemeinde. Meine jüdischen Freunde und Bekannten sind tot. Auch meine Eltern sind tot. Es ist keiner mehr da. Ich hatte Verwandte in Polen, in Galizien, um genauer zu sein. Aber die hab ich nie gekannt. Wo die sind? Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich erschossen. Oder erschlagen. Oder vergast. Ich habe keine Ahnung. Was ich in Berlin suche? Im amerikanischen Sektor? Meine Herren! Was für eine Frage! Woher soll ich das wissen? Ich wurde gekreuzigt und habe einen leichten Dachschaden! Und beim Iwan wollte ich nicht bleiben!
    Berlin wimmelt von Flüchtlingen. Ich bin auch einer. Wir Flüchtlinge sind wie aufgescheuchte Ameisen. Wir krabbeln in der Trümmerstadt herum. Alle möglichen Ameisen. Deutsche Ameisen ... Heimatvertriebene aus den besetzten Ostgebieten ... und ehemalige polnische Zwangsarbeiter und italienische und griechische und Vertreter anderer Länder. Aber ich, Itzig Finkelstein, bin eine ganz besondere Ameise. Eine jüdische Ameise. Ich darf heute ohne Angst in der Trümmerstadt herumkrabbeln. Denn ich war ein Opfer des gestürzten Regi mes. Und unter allen Opfern wurde ich am grausamsten verfolgt. Deshalb stehen mir heute alle möglichen Türen offen. Die Sieger lieben mich nicht. Denn mich liebt niemand. Aber sie haben Nachsicht mit mir. Und Türen stehen offen. Wie lange noch? Das weiß ichnicht. Aber solange sie offenstehen, kann ich hindurchschlüpfen.
    Ich putzte täglich meine Brille ... wegen der klaren Aussicht ... und hielt meine Froschaugen offen. Ich sah, daß die Hilfsorganisationen für überlebende Naziopfer wie die Pilze aus der Erde schossen. Ich glaube, sie ver körperten das Gewissen der Sieger. Diese Hilfsorganisationen überschütteten uns Opfer des gestürzten Regimes mit ihrer verspäteten Liebe und Fürsorge. Natürlich. Ein bißchen spät. Denn Millionen von uns waren tot. Aber besser zu spät als gar nicht. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich Ihnen alle Namen dieser Hilfsor ganisationen aufzähle. Ich hab sie nicht alle im Kopf behalten. Lassen Sie mich also folgendes sagen: Ich, Itzig Finkelstein, setzte mich mit den amerikanischjüdischen Hilfsorganisationen für die überlebenden Juden des Naziregimes in Verbindung. Die waren bei Kasse. Das können Sie mir ruhig glauben. Denn die amerikanischen Juden ... die wurden nicht gekreuzigt. Aber ich, Itzig Finkelstein, ihr leiblicher Vetter, wurde gekreuzigt. Und meine Vettern hatten Mitleid mit mir ... ein Mitleid, das noch größer war und stärker als das Mitleid all der übrigen Sieger, vor allem der offiziellen. Aber Mitleid ist Leid. Und das Leid ist ein Kreuz. Und sein Kreuz will jeder loswerden. Und deshalb standen mir, Itzig Finkelstein, Tränendollars zur Verfügung, damit ich, Itzig Finkelstein, wieder auf die Beine komme, damit meine blutenden Glieder heilen, damit ich mein Kreuz vergesse. Und sie das ihre.
    Also ... hören Sie zu:
    Man steckte mich, Itzig Finkelstein, mit anderen Gekreuzigten, in das DP-Erholungslager Lichtenberg bei Berlin. Einem Juden werden keine Fragen gestellt: Waren Sie bei der Wehrmacht? Waren Sie Parteimitglied? Oder gar Mitglied der SS? - Ein Jude ist einwandfrei. Er braucht auch nicht zu beweisen, daß er ein Opfer des gestürzten Regimes war. Denn ein Jude ... das ist: ein Opfer des gestürzten Regimes. Natürlich mußten wir

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