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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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ehrgeizbesessenen Studenten versetzen, wenn derselbe vor seinem Richter steht?
    Ich vergaß im Augenblick der ›Großen Prüfung‹ al les, was ich gelernt hatte, lag angstschlotternd, mit auf gerissenen Froschaugen in ihren Armen, dachte an das Auge des Polypen, hörte das Auge lachen, sah mich durchstrahlt, durchleuchtet, durchschaut, verhöhnt, gedemütigt, kastriert. - Nur einmal ... im Laufe jener ersten Nacht ... raffte ich mich auf, kriegte eine Wut, wollte mich rächen, stieß einen fürchterlichen Fluch aus, warf mich auf die Gräfin und nahm sie im Sturmangriff, der drei Sekunden dauerte ... oder, um genauer zu sein: dreieinhalb Sekunden.
    Und wissen Sie, was die Gräfin zu mir sagte?
    »Herr Finkelstein«, sagte sie, »Sie sind ein Barbar.«
    »Ich bin Jude«, sagte ich. »Kein Barbar.«
    »Um so schlimmer«, sagte die Gräfin. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Ein Goethezitat. Merken Sie sich das!«
    »Aber unser Erbe ist doch die Bibel«, sagte ich.
    »Das stimmt«, sagte die Gräfin. »Aber habt ihr nicht Berührung mit den Alten Griechen gehabt! Und auch mit Babylon! Habt ihr dort nichts gesehen? Und nichts gelernt? Gar nichts?«
    Es ist klar: Die Gräfin ist eine Antisemitin!
    In der letzten Zeit hat sie die Maske ganz fallen lassen.
    Tagtäglich muß ich spitze, höhnische Bemerkungen ein stecken. Nur das Wort ›Saujud‹ ist noch nicht gefallen, wird wahrscheinlich nie fallen, weil solche und ähnliche Ausdrücke nicht zu ihrem Wortschatz gehören. Das Wort ›Saujud‹ wird mir vielmehr verkleidet serviert. Aber immerhin: deutlich genug. Sogar die Dienstboten haben es bemerkt. Die nehmen sich nicht mal die Mühe, verstohlen hinter meinem Rücken zu grinsen. Die grinsen ganz offen in meiner Gegenwart.
    Gestern sagte die Gräfin: »Man sagt, daß ihr Juden mal ein stolzes Volk wart. Ein Volk von Ackerbauern, Schriftgelehrten und Soldaten. Angeblich hat kein Volk so sehr um seine Freiheit gekämpft, wie das Volk der Juden. Was ist bloß aus euch geworden?«
    Ich sagte: »Wie meinen Sie das?«
    »Wie ich das meine«, sagte die Gräfin höhnisch. »Ich meine, daß die Geschichte gelogen hat. Sonst hätte euer Volk nicht so ein Exemplar wie Sie, Herr Finkelstein, hervorbringen können. Haben Sie mal in den Spiegel geschaut?«
    Was hat die Gräfin gesagt? Angeblich hat kein Volk so sehr um seine Freiheit gekämpft wie das Volk der Juden? Was soll das heißen: Angeblich?
    Die Geschichte hätte gelogen! Hat sie das nicht gesagt? Eine Unverschämtheit! Sie will mich ganz kleinkriegen.
    Heute morgen - gleich nach dem Frühstück - habe ich dem Butler befohlen, mir eine Jüdische Geschichte‹ zu besorgen »Die Bibel kenn' ich«, hab ich gesagt. »Aber das genügt nicht. Besorgen Sie mir eine sachliche Jüdische Geschichte.‹«
    Auf den Butler kann man sich verlassen. Er hat mir eine Jüdische Geschichte‹ besorgt. Und zwar: eine Kurzfas sung! Kurzfassung mit den wichtigsten Zitaten, auch mit Auszügen aus dem Gesamtwerk des Historikers Graetz. Leicht und schnell durchzulesen. Außerdem: ›Die Geschichte des modernen Zionismus‹, den ›Juden-Staat ‹ von Theodor Herzl. ›Rom und Jerusalem‹ von Moses Hess, Schriften von Max Nordau, gedruckte Reden von Jabotinsky, rechtsradikale Zionistenliteratur und so fort. Ich bin mit dem Spürsinn des Butlers zufrieden. Ich werde der Gräfin beweisen, daß die Geschichte nicht gelogen hat.
    Ein Mensch, der so schwer arbeitet wie ich, hat wenig Zeit. Täglich Schwarzmarktsitzungen und -konferenzen, nebenbei Kleinarbeit im schwarzen Mercedes oder zu Fuß - obwohl ich das gar nicht nötig habe - außerdem sechs bis acht Stunden Lektüre, nachts, natürlich: Jüdische Geschichte, zionistische Geschichte und so weiter. Zwischendurch gehe ich auch in die Synagoge, erstens: um das Beten zu üben, zweitens: weil ich mich in der Synagoge zeigen möchte ... das kann nicht schaden.
    In der letzten Zeit ... lange Diskussionen mit der Gräfin. Thema: Hat die Geschichte gelogen oder nicht? Ich zeige ihr grinsend meine Bücher, berühmte Namen und wahre Zitate, die ich mit Blaustift unterstrichen habe und deren Glaubwürdigkeit unantastbar ist. Die Gräfin spottet zwar immer noch über meine Froschaugen, meine krumme Nase, meine Plattfüße, über meine Tätigkeit als Schwarzhändler, nennt mich einen minderwertigen Juden, klingelt ärgerlich nach dem Butler, läßt sich das ›Zeitungsalbum‹ bringen, zeigt mir Ausschnitte des

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