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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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beweisen, daß wir tatsächlich Juden waren. Die meisten von uns hatten keine Zeugen, weil die Zeu gen tot waren. Und die meisten hatten keine Papiere. Natürlich sind wir, die am Kreuz hingen, irgendwo und irgendwann mal geboren worden. Aber wie sollte man das nachweisen? Unsere Welt ist in Asche und Trümmer aufgegangen, und wer kannte uns noch?
    Wir kamen vor eine Prüfungskommission. Eine reine Formalität. Ein Arzt untersuchte uns Männer, ob wir beschnitten waren. Den Frauen blieb diese ärztliche Untersuchung erspart. Man gab uns ein Gebetbuch, um zu sehen, ob wir hebräisch lesen konnten. Man fragte uns nach den jüdischen Feiertagen. Jeder mußte seine Geschichte erzählen.
    Sie werden sich vorstellen können, daß manche von uns, die nicht jüdisch aussahen, mehr, andere dagegen weniger auf Herz und Nieren geprüft oder auf den Zahn gefühlt wurden. Ich hatte es besonders leicht. Als ich an der Reihe war und stotternd meinen Namen murmelte, lachten die Herren der Prüfungskommission. Einer von ihnen, ein Glatzkopf, sagte: »Herr Finkelstein . Wir wissen, daß Sie Jude sind.«
    Ich zeigte ihnen meine Auschwitznummer. Die Herren nickten nur. Ich knöpfte meinen Hosenbund auf und zeigte ihnen mein Glied. Die Herren lachten. Der Glatzkopf sagte: »Herr Finkelstein. Wir wollen hier keine Demonstration.« Ich glaube, daß die Herren mich nicht für ganz voll nahmen. Man gab mir weder ein Gebetbuch, noch fragte man mich nach den jüdischen Feiertagen. Ich wurde auch nicht ärztlich untersucht. Meine jüdische Identität stand für sie einwandfrei fest.
    Trotzdem ließ ich mich nicht so schnell abspeisen. Denn ich wollte ja nicht vorgezogen werden. Warum sollte ich weniger geprüft werden als die anderen Juden? Ich zählte also die jüdischen Feiertage auf, obwohl man mich gar nicht danach gefragt hatte, leierte Gebete, die ich einst von Itzig Finkelstein gelernt hatte, auswendig herunter. Aber die Herren winkten ab. Sie lachten. Der Glatzkopf erlaubte sich sogar einen kleinen Scherz. Er fragte: »Herr Finkelstein. Wieviel Götter haben wir?« Ich sagte: »Einen.«
    Der Glatzkopf fragte: »Sind Sie auch sicher?« Ich sagte: »Ganz sicher. Nur einen. Keinen Gottes-Sohn. Und keine Heilige Jungfrau. Unser Gott ist auch kein Zauberficker, der unschuldige Jungfrauen schwän gert, ohne sie zu entjungfern. Solche Witze macht der nicht.«
    Da hörten die Herren zu lachen auf. Ich konnte ihre Gedanken lesen, und ich las sie laut vor: »Der hat einen Dachschaden!«
    Der Glatzkopf fragte: »Wer hat einen Dachschaden?« Ich sagte: »Ich habe einen Dachschaden.« Die Herren starrten nur noch auf meine Auschwitznummer, denn ich hatte meine Hose ja wieder zuge knöpft. Ich konnte ihre Gedanken lesen. Aber ich las sie nicht mehr laut vor. Ich las sie stumm, mit zusammengepreßtem Mund: Der war in Auschwitz! Der hat einen Dachschaden! Kein Wunder!
    Ich blieb einige Wochen im jüdischen Erholungslager Lichtenberg bei Berlin. Dort kriegte ich tüchtig zu essen. Die jüdische Lagerverwaltung drängte mir ihr Wohlwollen förmlich auf. Ich wurde neu eingekleidet. Man gab mir Vitaminspritzen. Ich kriegte wieder Papie re ... oder, um genauer zu sein: einen provisorischenDP-Ausweis. Ich brauchte mich nicht mehr zu verstecken, denn mein DP-Ausweis bewies schwarz auf weiß, daß ich, sein Besitzer, der gekreuzigte Itzig Finkelstein, nach eigenen Angaben ... Itzig Finkelstein war, von Beruf Friseur, geboren am 15. Mai 1907, in der ehemals deutschen, heute polnischen Stadt Wieshalle.
    Wie lange solch ein provisorischer DP-Ausweis gültig ist? Wollen Sie das wissen?
    Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall: solange ... bis hier bei uns in Deutschland wieder Ordnung herrscht... bis die Ruinen verschwinden ... und die DP-Lager ... bis der Laden wieder funktioniert ... bis die Besatzung aufhört ... bis wir hier den Karren aus dem Dreck ziehen. Und das wird bestimmt noch eine Weile dauern.
    Nachdem ich mich gründlich erholt hatte, ging ich zurück nach Berlin ... um meine Goldzähne zu verkaufen.
    Ich fand ein Quartier ... Keller natürlich ... Kellerkammer mit separatem Eingang ... grub die Goldzähne aus ... holte sie nach Hause.
    Ich, Itzig Finkelstein, hatte es nun nicht mehr nötig, einzelne Goldzähne zu verkaufen und den Leuten zu erzählen: diesen Goldzahn hab ich mir selber ausgebro chen! - Ich konnte sie jetzt dutzendweise verkaufen, denn ich, Itzig Finkelstein, stand jenseits jeden Verdachts. Keiner würde mich für einen

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