Der Nazi & der Friseur
Amerika?«
»Nein. In unserem eigenen Land.«
»Und was wollen Sie dort machen?«
»Das weiß ich noch nicht. Ein neues Leben anfangen. Eine neue Familie gründen.«
Max Rosenfeld begleitet mich oft bis zum Schwarz markt, obwohl er den Schwarzmarkt haßt. Nur, um sich die Beine zu vertreten ... und um mit jemandem zu reden.
Auch gestern:
»Herr Finkelstein! Juden wie Sie sind ein gefundenes Fressen für die Hetzpropaganda der Antisemiten!«
»Wie meinen Sie das?«
»Schwarzhändler wie Sie!«
»Aber Herr Rosenfeld ...«
»Das heißt ... wieder Öl auf die Flamme gießen, die sich hier einstweilen beruhigt hat.«
»Aber ich bitte Sie ...«
»Sie sollten auswandern, Herr Finkelstein. Fahren Sie nach Palästina. Nehmen Sie einen Pflug in die Hand.
Und ein Gewehr. Leisten Sie Aufbauarbeit. Helfen Sie, Ihr Land befreien. Anstatt hier in Deutschland zu hocken, um als Schwarzhändler wieder Antisemitismus zu stiften!«
Hatte nicht auch der Butler etwas Ähnliches gesagt?
Daß sich Max Rosenfeld später bei mir entschuldigte - und zwar noch vor dem Abendessen - hatte ich erwartet. Wir leerten gemeinsam eine Flasche schwar zen Wein, tranken auf den zukünftigen Judenstaat, tran ken auf das Ende der Diaspora, segneten den Nil, der die Heerscharen des Pharaoh verschlang, segneten die Stadt an der Wolga. »Denn dort, vor der Stadt an der Wolga, hing ein Schild. Und dort stand drauf: ›Ihr Heerscharen des Neuen Pharaoh ... dieser Weg führt nicht zur Wolga ... dieser Weg führt zum Nil!‹«
Ich machte Max Rosenfeld klar, daß er sich geirrt hatte. »Sehen Sie, Herr Rosenfeld ... Sie glauben, daß ich, Itzig Finkelstein, als Schwarzhändler früher oder später Antisemitismus stiften werde. Das kann schon sein! Aber glauben Sie mir, Herr Rosenfeld ... im Grun de ist das doch scheißegal, ob ich, Itzig Finkelstein, Schwarzhändler bin oder Akademiker oder Bauer oder Fabrikarbeiter oder Handwerker oder Soldat. Man wird mich, Itzig Finkelstein, früher oder später sowieso hassen! Und wissen Sie warum? Weil ich Jude bin! Basta!« Max Rosenfeld nickte. »Nicht in unserem eige nen Land«, sagte er leise. »Dort nicht.«
Es geht wieder aufwärts. Ich, Itzig Finkelstein, verdiene Geld am laufenden Band. Ich zähle zwar noch nicht oder nicht mehr zu den ›Großen‹ oder den ›Ganz Großen‹, sondern nur zu den ›Kleinen‹, jedoch nicht zu den ›Ganz Kleinen‹. Ich lebe! Oder: Man lebt! Oder: Man lebt so, wie man kann! Jeder nach seiner Fasson! -wie das so heißt ...
Um ganz ehrlich zu sein: Es ist mir egal, was die Deutschen von mir, dem Juden Itzig Finkelstein, den ken. Ich komme mir wie eine Mücke vor. Es ist egal, ob ich summe, schwirre, steche, krabble oder brav dasitze oder - hocke. Sie können mich nicht leiden. Früher oder später werden sie mich totquetschen. Ich bin ›der Splitter in meines Bruders Auge‹. Oder die Mücke! Obwohl ich gar keine Mücke bin! Aber das wissen sie nicht. Das weiß nur ich! Ich bin ein Jude!
Gestern fuhren Max Rosenfeld und ich im schwarzen Mercedes - ich habe mir nämlich wieder einen gekauft; allerdings ein gebrauchter, denn ich bin ja noch kein ›Großer‹ oder ›Ganz Großer‹ - also: fuhren im schwar zen Mercedes in die Umgebung. Besuchten einige jüdi sche DP-Camps. Die werden immer leerer. Die Leute wandern allmählich aus. Viele nach den Staaten, viele nach Kanada, Australien, Südafrika ... die meisten jedoch nach dem Heiligen Lande.
Max Rosenfeld sagte: »Der Auszug der Millionen!«
Sicher sind es keine Millionen. Sind überhaupt noch soviele von uns da? Aber Hunderttausende! Das bestimmt! Die Juden wandern aus. Man merkt es auch auf dem Schwarzmarkt.
Die Zeitung ›Reuiges Vaterland‹ wird jeden Morgen mit neudeutscher Unpünktlichkeit im Hotel ›Vaterland‹ abgeliefert. Heute erst kurz nach neun.
Mir fallen zwei Bilder auf der ersten Seite auf: das Bild eines blonden jüdischen Hünen; daneben, das Bild eines kleinen, schwarzhaarigen, plattfüßigen, krummbeinigen Deutschen. Schlagzeile: Die Juden - ein Volk von Ackerbauern, Pionieren, Soldaten!
Ich sage zu Max Rosenfeld: »Sehen Sie ... das habe ich doch immer gewußt!"
Habe mir die Zeitung ›Reuiges Vaterland‹ mit aufs Zim mer genommen. Lese: »Der Marsch der Millionen!«
Übertreibung. Auch hier. Es sind nur Hunderttausende! Außerdem: was heißt Marsch? Fahren sie nicht mit Schiffen? Lese: »Millionen Überlebender des tapfe ren jüdischen Volkes wandern nach dem ›Staat Israel‹
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