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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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glühende Kohle. Ja, lieber Itzig. Der ist einäu gig. Aber nicht blind.
    Wer uns hier auf der ›Exitus‹ beschützt... außer Teiresias Pappas? Lieber Itzig ... die ›Organisation‹ ... wer sonst? David Schapiro ist nämlich auch auf der ›Exitus‹. Wer das ist ... David Schapiro? Ein Haganahkomman-dant, lieber Itzig. Die ›Haganah‹, das ist die jüdische Verteidigungsarmee in Palästina, eine Armee, die vom Standpunkt der Engländer illegal ist, von unserem aber legal. Verstehst du das, lieber Itzig? Die Haganah, das ist die legale illegale jüdische Untergrund- und Verteidigungsarmee in Palästina.
    Außer David Schapiro sind noch andere hier ... Haganahsoldaten ... auch zwei Vertreter der ›Palmach‹ ... das sind die jüdischen Einsatzkommandos im Gelobten Lande - wir sollten sie lieber Stoßtrupps nennen, was ... Itzig? - und natürlich auch einige Agenten der ›Mossad Le Aliya Bet‹, das ist die Organisation, die für die illegale Einwanderung der Juden nach Palästina verantwortlich ist - illegal vom Standpunkt der Engländer, lieber Itzig ... merk dir das ... von unserem Standpunkt: legal -sogar ein Vertreter der ›Rechasch‹ ist an Bord, zuständig für Waffenbeschaffung, ein Mann, der seine Aufgabe in Europa erledigt hat und mit uns nach Hause fährt ... du siehst, Itzig ... alles Leute, die für die ›Organisation‹ arbeiten oder sagen wir: für die ›Dachorganisation‹ oder: für die Schattenregierung des zukünftigen Judenstaates.
    Ob wir bewaffnet sind? Was für eine Frage! ... Lieber Itzig. Die Haganahleute sind bis an die Zähne bewaffnet, auch die von der ›Palmach‹ und auch die anderen. Oder glaubst du, daß Teiresias Pappas seine Mannschaft in Schach halten könnte, wenn er nicht wüßte, daß jüdische Freiheitskämpfer hinter ihm stehen? Na also!
    Mir fällt etwas ein. Ich sehe ... eine schwimmende Sardinenbüchse. Jetzt hab ich's. Die Exitus ist eine Sardinenbüchse. Wir sind Sardinen. Und unsere Toten? Die auch. Sie stehen, liegen, sitzen oder hocken zwischen uns. Körperlose Sardinen.
    Hier ist kein Platz. Das ist fast so wie in euren Baracken in Laubwalde.
    Die ›Exitus‹ ist bis zum Übermaß und noch darüber hinaus mit uns Illegalen vollgepropft. 1600 Menschen auf einem 700-Tonnen-Schiff. Jetzt weiß ich auch, warum Teiresias Pappas sich dreimal am Tage bekreuzigt.
    Unlängst sagte Teiresias Pappas: »Herr Haganahkommandant David Schapiro ... wenn das Schiff nicht von euch Juden verhext ist ... dann heiße ich nicht Teiresias Pappas!«
    Und der Haganahkommandant David Schapiro sagte: »Herr Kapitän Teiresias Pappas ... was soll das heißen?«
    Und Teiresias Pappas sagte: »Ein Passagier pro Tonne der Wasserverdrängung! Das ist, im Notfall, auf einem kleinen Schiff erlaubt. So hab ich's in meinen Büchern gelernt! Ein 700-Tonnen-Schiff für 700 Passagiere. Aber nicht mehr.«
    »Na und?« sagte David Schapiro.
    »Logischerweise müssen wir alle absaufen«, sagte Teiresias Pappas. »1600 Illegale außer der Mannschaft. Das ist ein bißchen zuviel.«
    »Wir saufen aber nicht ab«, sagte David Schapiro ... der Haganahkommandant. »Erstens ... weil wir den ›Kahn‹ verhext haben ... und zweitens, weil Sie, lieber Teiresias Pappas, uns allen die Landung prophezeit haben!«
    Ja, lieber Itzig. Wir sind zu viele. Das ist kein Spaß. Obwohl die Toten nichts wiegen. Aber wir, die Lebendigen ... wir wiegen doch was! Wie kommt das ... das wir nicht absaufen? Haben die Toten Flügel? Tragen sie die ›Exitus‹?
    Ich habe Glück mit meiner Schlafstelle. Wer keine Koje erwischt hat, der schläft auf dem Fußboden. Hier, im Laderaum, ist die Luft verbraucht. Es riecht nach Schweiß und Erbrochenem. Die ›Exitus‹ bewegt sich zuweilen wie eine Schaukel, und die Seekranken erbre chen sich an Ort und Stelle ... denn es ist nicht einfach, bei jedem Anfall nach oben zu taumeln ... überall liegen schlafende Menschen ... auch auf den Durchgängen und auf den Treppen.
    Ich schlafe nicht viel. Wache oft auf ... werde aufge weckt von gellenden Schreien. Was sagst du, Itzig? Was fragst du? Warum manche Leute schreien ... in der Nacht ... warum sie schreien? - Das sind die Überlebenden, lieber Itzig, die aus unseren Konzentrationslagern. Ich weiß nicht, warum sie noch schreien, obwohl doch längst alles vorbei ist. Vielleicht bloß Angstträume? Ich weiß es wirklich nicht. Ja, lieber Itzig. Und die Säuglinge plärren. Die auch.
    Ich freu' mich jedesmal, wenn der Morgen graut. Ich

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