Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
Vom Netzwerk:
offen geste he - im selben Viertel wie ich aufgewachsen war und sogar bei meinem Vater, dem Chaim Finkelstein, in die Lehre ging ... nicht, um das Handwerk des Massenmordes zu erlernen, sondern den ehrsamen Beruf eines Friseurs. Die Leute begreifen auch, warum ich unter allen SS-Leuten in Laubwalde gerade Max Schulz verdächtige, obwohl ich das nicht beweisen kann. »Denn der hat meine Eltern erschossen! Der ... und kein anderer!«
    Die Leute sagen zu mir: »Denken Sie nicht mehr dran! Sonst machen Sie sich kaputt! Denken Sie an die Zukunft, Herr Finkelstein ... nicht an die Vergangenheit!«
    Und ich sage zu ihnen: »Das habe ich immer gemacht!«
    Die Zukunft! Lieber Itzig ... deshalb steh' ich so gern an der Reling, den Blick nach dem Land der Verheißung gerichtet.
    Ein Geisterschiff ... fragst du? Ja, lieber Itzig. Aber ein lustiges. Trotz der gellenden Schreie in der Nacht.
    Denn nicht auf die Nacht ... auf den Tag kommt es an, lieber Itzig. Die ›Exitus‹ kommt aus der Nacht. Aber sie steuert dem Tag entgegen. Am Tage sind die Men schen froh. Jeder hier scheint den hellen Tag zu lieben. Da bin ich, der Massenmörder, gar keine Ausnahme.
    Das Essen ist schlecht. Das stimmt. Aber wir singen Lieder beim Essen. So rutscht es leichter runter. Überhaupt wird hier viel gesungen. Und auch getanzt. Kennst du den jüdischen Nationaltanz: die Horra? Da tanzt alt und jung. Sogar Teiresias Pappas, der doch ein Grieche ist, tanzt mit.
    Ja, wir tanzen Horra, lieber Itzig, und wer nicht tanzt, der klatscht den Takt mit den Händen dazu. Wo die Kapelle ist? Mach keine Witze! Wir singen, lieber Itzig. Wir singen! Und ein paar junge Burschen spielen Mundharmonika. Das müßtest du sehen! Deine toten Augen würden blitzen. Das ist ein Spaß, sag' ich dir.
    Ob die Toten mittanzen? Ja, lieber Itzig. Die tanzen mit. Du auch. Du weißt es bloß nicht. Auch dein Vater. Und auch deine Mutter.
    Wir lieben den hellen Tag, Itzig. Das Wetter ist gut. Da haben wir wirklich Glück. Mit dem Wetter. Die Sonne freut sich mit uns. Frag doch die Sonne, Itzig. Die spielt mit den kleinen Kindern an Deck und mit den großen. Und die Sonne lacht uns an. Es ist alles vorbei, Itzig. Wir können jetzt lachen ... obwohl wir manchmal noch weinen möchten.
    Und das Meer? Auch das Meer freut sich mit uns, Itzig. Ein Sturm könnte uns umwerfen. Aber das Meer ist ruhig. Vielleicht ahnt das Meer, daß unser Schiff von den Flügeln der Toten getragen wird? Ich weiß es nicht, Itzig. Ich weiß es wirklich nicht.
    Das Meer ist ruhig. Die Mütter an der Reling halten die kleinen Kinder ab - das geht so den ganzen Tag - die pinkeln und pinkeln ... und das Meer schielt mit grünen Augen nach oben, sagt aber nichts, schluckt alles mit Nachsicht, bäumt sich nicht auf.
    Unlängst sagte Teiresias Pappas: »Das Meer ist ruhig. Das Meer könnte uns alle schlucken ... uns Illegale.
    Aber das tut das Meer nicht. Weil das die Engländer freuen würde. Und das weiß das Meer. Das Meer liebt die Engländer nicht, weil die Engländer die Meere zu lange beherrscht haben. Jawohl, meine Herren. Glauben Sie Teiresias Pappas!"
3.
    Du wirst staunen, Itzig, wenn ich dir in diesem Augenblick gestehe, daß ich, Max Schulz, der Haarkünstler, das Haareschneiden fast verlernt habe. Es sind ja auch viele Jahre her. Hatte doch lange Zeit bloß mit dem Gewehr geübt ... wie man so sagt: an meinen jüdischen Zielscheiben ... hatte Schere und Kamm eingemottet.
    Kurz vor der Abreise kaufte ich ein paar Werkzeuge: Kamm, Schere, Rasiermesser, Rasiermaschine und noch einiges andere. Du weißt ja. Das Nötigste. Weil ich mir sagte: »Das bringt Glück!«
    Ob ich den Leuten auf der ›Exitus‹ die Haare schnei de? Klar. Einmal muß man ja wieder anfangen. Und hier, auf der ›Exitus‹, habe ich gute Gelegenheit, wieder in Übung zu kommen. Ich bin der einzige Friseur auf diesem Jammerkasten. Wenn man bedenkt: unentbehr lich.
    Das war ein denkwürdiger Tag! Der Tag, an dem ich, der Massenmörder Max Schulz, wieder ein Friseur wurde! Ein Mann mit bürgerlichem und biederem Beruf! Wenn ich einen Kalender hätte, dann würde ich diesen Tag, diesen denkwürdigen Tag, mit Blaustift ein kreisen, umranden, mit dickem, festem, lückenlosem, blauen Strich.
    So fing das an, lieber Itzig: Mein Freund, Max Rosen feld unterhielt sich auf Deck mit dem Kapitän Teiresias Pappas. Sagte zu ihm: »An ihrer Stelle würd' ich mirmal den Bart stutzen lassen! Die Leute sagen nämlich: ›Verwildert schaut der aus! Der

Weitere Kostenlose Bücher