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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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kann den hellen Tag kaum erwarten. Noch vor dem ersten Dämmerlicht krieche ich aus dem Bauch der ›Exitus‹, stolpere über die vielen Leiber, taste mich nach oben ... wie ein Erstickender ... und schnappe nach Luft. Tagsüber ist auch im Freien alles überfüllt, und die Menschen an Deck machen verzweifelte Gehversuche oder stehen dichtgedrängt an der Reling. In aller Früh aber ist an Deck genug Platz. Genug Platz. Auch für mich, den Massenmörder Max Schulz. Da kann ich mir die Beine vertreten.
    Ja, lieber Itzig. Wenn der erwachende Gott seine Augen öffnet, wenn sein erster schlaftrunkener Blick auf das Meer fällt und auf die Himmelsgrenzen über dem Meer ... wenn der liebe Gott hustet und die Nacht aufscheucht... und wenn die Nacht sagt: Immer mit derRuhe! Ich springe nicht weg! Ich verdrücke mich langsam! ... dann, lieber Itzig, schlendre ich, Max Schulz, der Massenmörder oder Itzig Finkelstein, der Jude, zwischen Achterdeck und Back hin und her, bewege mich frei, sauge meine Lungen tief mit salziger Luft voll, atme Sauerstoff.
    Ich stelle mich an die Brüstung hin, breite meine Arme aus, stehe da mit geschlossenen Augen ... öffne sie dann langsam ... so, wie der schlaftrunkene Gott ... sehe noch nichts ... aber höre ... die Stimme »Dessen«, der nicht ist: »Es werde Licht!« ... und das schwarzgraue Meer verfärbt sich allmählich, schillert geheim nisvoll. Ich sehe das erste Morgenrot! Ich sehe, wie sich im Osten Himmel und Erde vereinen ... im lachenden Feuer. Dort steuern wir hin. Gen Osten. Dort, wo das lachende Feuer ist. Dort steuern wir hin mit unseren Toten! Damit sie wieder auferstehen!
    Ich versuche logisch zu denken. Sage zu mir: »Du hast dich geirrt. Wir nehmen die Toten mit. Das stimmt. Aber sind es wirklich nur die 6 Millionen. Fahren nicht alle Toten mit uns, die einmal im Exil gestorben sind, nach der Zerstörung des Zweiten Tempels oder vorher?« Sage zu mir: »Itzig Finkelstein. Das stimmt schon. Aber die Exitus ist nicht das einzige Heimkehrerschiff. Andere sind vor ihr gefahren und andere werden nach ihr fahren. Folglich nimmt die Exitus nicht alle Toten mit. Sonst kämen die anderen Schiffe oder Jammerkästen zu kurz.«
    Unlängst sah ich deinen Schatten an der Reling. Und den Schatten deines Vaters. Und den Schatten deiner Mutter. Ihr habt euch nicht umgedreht. Ich trat durch euch hindurch. Und blickte aufs Meer ... Und blinzelte in die Sonne.
    Dein Vater sagte zu deiner Mutter: »Sara! Ich glaube, ›Er‹ hat unseren Sohn erschossen!«
    Und deine Mutter sagte: »Chaim! Ich glaube, ›Er‹ hat unseren Sohn erschossen!«
    Und du sagtest zu ihnen: »Vater! Mutter! Ich glaube, ›Er‹ hat mich von hinten erschossen!« - Und dann hast du gefragt: »Wer hat euch erschossen, als ich nicht dabei war? ›Er‹? Hat ›Er‹ euch erschossen?«
    Rat mal, was dann passiert ist? Als ich einen Schritt zurücktrat ... heraus aus eurem Schatten ... ?
    Ich stieß gegen Max Rosenfeld. Der stand hinter mir ... sagte: »Herr Finkelstein!«
    Und ich sagte: »Herr Rosenfeld!«
    »Warum so in Gedanken verloren?«
    »Ich hab an meine Eltern gedacht.«
    »Ach so ...«
    »Die wurden in Laubwalde erschossen.«
    Max Rosenfeld blickte an mir vorbei, starrte aufs Meer und auf die Wasserspuren der ›Exitus‹, als hätte er Angst, mich anzuschauen.
    »Hier ... sehen Sie ...« Ich holte ein paar Zeitungsausschnitte aus meiner Westentasche, zeigte sie Max Rosenfeld. Schlagzeilen: »Massenmord in Laubwalde! Wie sie liquidiert wurden! In Polen hinter Stacheldraht!« ... und so fort... zeigte mit dem Finger auf den Namen Max Schulz.
    »Unterstrichen!« sagte Max Rosenfeld.
    »Den unterstreich ich immer«, sagte ich.
    »Warum?«
    »Der hat meine Eltern umgebracht.«
    »Woher wissen Sie das? Dort waren noch andere SS- Leute!«
    »Das stimmt«, sagte ich. »Eigentlich stimmt das."
    Meine Sammlung ausgeschnittener Zeitungsberichte, hier auf der ›Exitus‹, wandert von Hand zu Hand. Max Schulz ist unbekannt. Ein Name, irgendein Name auf der unübersichtlichen Namensliste des Grauens. Die Leute sind längst abgestumpft. Sie hatten das Grauen gekannt, zu lange gekannt. Die meisten lesen meine Sammlung gelangweilt durch, haben aber Verständnis für mich, denn es hat sich inzwischen herumgesprochen, daß ich, Itzig Finkelstein, aus Wieshalle stamme, einer kleinen schlesischen Stadt ... ebenso wie Max Schulz. Daß ich ihn gekannt hatte, verblüfft niemand, auch nicht die Tatsache, daß Max Schulz - was ich ganz

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