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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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hier auf der ›Exitus‹ fressen fast nur Cornedbeef, sind Cornedbeeffresser, weil unsere Vorratskammer bis zum Rand mit Konservenbüchsen angefüllt ist. Was für Konserven? Ich hab's dir doch gesagt. Cornedbeefkonserven! Gehacktes Fleisch in Tränensauce. Was sagst du? Was fragst du? Was für Trä nen? Dieselben Tränen, lieber Itzig, aus derselben Quel le wie die Tränendollars der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisationen, die auch unser Cornedbeef spendiert haben. So ist das. Aber ich quassele zuviel oder denke zuviel oder schweife ab.
    Die Nase ist schmal und knochig, ihr Mund dagegen breit, wenn auch nicht so wulstig wie meiner. Hanna Lewisohn lag still da, während ich ihr Gesicht betastete, nur ihr Atem kam stoßweise und verriet die Erregung. Plötzlich umschlang sie mich, rollte mich auf den Rücken, warf sich auf mich hinauf, setzte sich auf mein hartes Glied, ließ es in ihrem Schoß verschwinden, saß wie ein Käfer auf mir, kroch aber wieder runter, riß plötzlich mei nen Kopf hoch und preßte ihre Lippen auf die meinen.
    Das war unser erster Kuß.
    Hab ich dich scharf gemacht, lieber Itzig? Willst du wis sen, ob sie einen Orgasmus gehabt hat?
    Beim Küssen, lieber Itzig. Mehrere Mal. Dann stieß sie mich weg, drehte mir den Rücken zu und ließ michnicht mehr ran. Die ist ein bißchen verrückt. Ein bißchen sehr.
    »Und da bin ich gerannt«, sagte Hanna.
    »Wohin?« fragte ich.
    »Ich weiß nicht wohin«, sagte Hanna. »Ich bin bloß gerannt. Und da war eine Straße. Und die war dunkel. Alles war dunkel. Und dort rannte ich hin.«
    »Wohin?« fragte ich.
    »Ins Dunkel«, sagte Hanna.
    »Und was war dann?«
    »Dort stand ein Haus«, sagte Hanna.
    »Nur ein Haus?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Hanna. »Ich sah nur das eine Haus. Und eine offene Haustür. Und dort rannte ich rein. Und die dunkle Treppe hoch. Ganz hoch hinauf. Bis es nicht mehr weiterging.«
    »Ja, Hanna«, sagte ich. »Ja, Hanna.«
    »Und dort oben ... ganz oben ... war nur eine Tür, eine einzige Tür. Und dort klopfte ich an.«
    »Und hat dir jemand aufgemacht?«
    »Ja«, sagte Hanna.
    »Wer war das?«
    »Ein Buckliger«, sagte Hanna. »Ein Zwerg. Einer mit kurzen, dünnen Beinen und einem Riesenkopf. Und langen Armen ... und einer Lampe ... in seinen großen Händen.«
    »Sicherlich hat er auch große Zähne gehabt?«
    »Ja. Große Zähne!«
    »Ein Menschenfresser?«
    »Ja«, sagte Hanna. »Ein Menschenfresser!«
    »Hat er dich gefressen?«
    »Nein«, sagte Hanna. »Der hat mich nicht gefressen.«
    »Ich sagte zu ihm: ›Ich bin eine Jüdin. Die Gestapo ist hinter mir her. Die wollen mich umbringen!‹
    Der Zwerg starrte mich an. Er starrte mich sehr lange an, packte mich dann plötzlich, zog mich ins Zimmer und zischte: ›Ich werde Sie hier verstecken!‹«
    Ich sagte: »Ja, Hanna.«
    »Eine Dachkammer«, sagte Hanna. »Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Und eine lange Bank!«
    »Und ein Fenster«, sagte ich.
    »Ja. Und ein Fenster«, sagte Hanna.
    »Und vom Fenster sah man Berlin, stimmt's? Berlin von oben?«
    »Ja«, sagte Hanna. »Woher weißt du das?«
    »Und was war dann, Hanna. Hat er dich aufgefressen?«
    »Nein«, sagte Hanna. »Bloß angeschnallt hat er mich. Auf die lange Bank.«
    »Wie oft, Hanna?«
    »Nur einmal«, sagte Hanna.
    »Und für wie lange?«
    »Lange«, sagte Hanna.
    »Wie lange, Hanna? Wie lange warst du dort angeschnallt?«
    »Drei Jahre lang«, sagte Hanna.
    »Ja. Er hat für mich gesorgt. Er brachte mir regelmäßig mein Essen. Er wusch mich und hielt mir den Nachttopf hin.«
    »Drei Jahre lang?«
    »Drei Jahre lang.«
    »Und er hat dich nie losgeschnallt?«
    »Nie losgeschnallt!«
    »Und er hat dich geschlagen?«
    »Nein«, sagte Hanna. »Er hat mich nie geschlagen.«
    »Und vergewaltigt?«
    »Das auch nicht."
    »Was denn hat er gemacht?«
    »Gar nichts hat er gemacht. Nur angestarrt hat er mich.«
    »Und was war dann, Hanna?«
    »Dann fing ich zu tanzen an«, sagte Hanna.
    »Obwohl du angeschnallt warst?«
    »Ja«, sagte Hanna. »Ich bin doch eine Ballerina. Ich muß doch tanzen.«
    Ich sagte: »Ja. Das mußt du allerdings.«
    »Und getanzt hab ich«, sagte Hanna. »Drei Jahre lang hab ich getanzt. Du hättest mich sehen sollen.«
    »Du warst gewiß großartig?«
    »Ja«, sagte Hanna. »Das war ich. Ich wurde täglich besser. Immer besser. Besser als die Pawlowa. Besser! Viel besser! Ich feierte Triumphe. Die bekanntesten Choreographen arbeiteten mit mir. Mit Hanna Lewisohn. Primaballerina assoluta! Du

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