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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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»Chawer Itzig! Bist du ein Rabbi?« Oder: »Chawer Itzig! Schneid mir doch mal die Haare!«
    Fünf Schlafkojen übereinander. Der Rabbi schläft ganz oben. Der ist Nummer eins, wenn man so will. Er könnte aber auch Nummer fünf sein. Ich bin Nummer zwei oder Nummer vier. Das hängt ganz davon ab, lieber Itzig, ob du, der Tote, uns Lebendige von unten zu zählen anfängst oder von oben.
    Unter mir liegt ein Mann. Ich weiß nicht, wie er heißt. Bloß ein Mann. Und unter dem Mann liegt eineFrau. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Bloß eine Frau.
    Aber rat mal, wer ganz unten liegt? Nummer eins oder Nummer fünf?
    Ganz unten liegt Hanna Lewisohn aus Berlin, die Ballerina. Ich hatte sie früher flüchtig erwähnt. Die hat mir erklärt, wer Teiresias war ... Teiresias, der blinde Seher der Antigone.
    Hanna Lewisohn behauptet, daß sie Berlin überlebt hat, als Berlin eingeäschert wurde, und daß sie tanzend aus glimmender Asche herausgeschwebt war ... denn die tanzenden Ballerinas tanzen ja nicht: sie schweben.
    Hanna Lewisohn gehört zu meiner weiblichen Kundschaft. Sie war die erste, die sich von mir, dem Massen mörder Max Schulz oder Itzig Finkelstein, die Haare schneiden ließ: »Herr Finkelstein! Einen Herrenschnitt für eine Ballerina!«
    Wir sind jetzt gut befreundet und bereits per du. Sie hat einen Dachschaden wie ich ... und doch ganz anders. Ich glaube, die ist wirklich verrückt. Aber wir vertragen uns gut. Ja. Ausgezeichnet. Manchmal kommt's mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, zu dem sie sprechen könnte. Wie das so ist: eine Vertrauenssache.
    Verrückt? Ja, sie ist verrückt. Und doch von Zeit zu Zeit ganz vernünftig. Hat mir ja auch erklärt, was Teiresias bedeutet. Auf eine normale, vernünftige Art.
    Eines Nachts wurde mir übel. Die ›Exitus‹ zitterte in allen Fugen, hatte hohen Blutdruck, rollte mit den Geisteraugen, rammte wütend gegen die grinsenden Wel len, stöhnte in der Nacht. Zuweilen bäumte die ›Exitus‹ sich auf wie ein verwundeter Walfisch, schoß aus dem nächtlichen Wasser, wollte zu den Wolken springen, sank aber kraftlos zurück, hing wütend zwischen den Wellen, drehte sich im Kreise ... Ich kletterte also von meiner Schlafstelle herunter, an den beiden Unbekannten vorbei, auch an der Ballerina Hanna Lewisohn, torkelte über die Schlafenden auf dem Fußboden des Lagerraums, wollte nach oben, übergab  mich aber bereits auf der steilen Treppe. Nachdem ich mich beruhigt und mir den Mund abgewischt hatte, stolperte ich zurück, fand im Dunkeln Hanna Lewisohns  Koje, dachte: so, hier mußt du rauf, dreimal eins ist drei und die vierte, das ist deine ... stand schon auf der Leiter ... da packten mich zwei Hände!
    »Bist du's, Itzig?«
    Ich sagte: »Ja. Ich bin's.«
    »Mein Herrenschnitt hat sich verrutscht!«
    Ich sagte: »Ach, Unsinn. Sowas gibt's nicht.«
    »Doch«, sagte Hanna Lewisohn. »Sowas gibt's.«
    Sie stieß mich von der Leiter herunter, packte mich und zog mich unter ihre Decke.
    Ich konnte im Finstern ihr Gesicht nicht sehen, aber ich kannte es gut. Das Gesicht der Ballerina Hanna Lewisohn hat einen kindlichen Ausdruck: es ist das Gesicht einer Sechsjährigen mit der Haut einer Greisin. Ihre Augen müßtest du sehen, lieber Itzig! Kugelrunde, schwarze Augen ... Augen, die lächeln können wie Lippen, wenn auch etwas irre ... aber sehr heiter ... ja ... lie ber Itzig ... sehr heiter. Ihr Haar ist ebenfalls schwarz, viel zu schwarz, um nicht gefärbt zu sein; das hab ich gleich festgestellt mit dem geübten Blick des Friseurs. Aber seidenweich ist ihr Haar, geeignet für den Herren schnitt. Der steht ihr ausgezeichnet ... nämlich ... der Herrenschnitt ... mein Herrenschnitt ... der Fassonschnitt ohne Treppen. Hab ihr auch einmal gesagt: »Hanna«, hab ich gesagt. »So einen prima fassonmäßigen Herrenschnitt ohne Treppen konnten nur drei Friseure zustandebringen: der Chaim Finkelstein - mein Vater -und ich. Und auch der Massenmörder Max Schulz.« »Der auch?« hat sie gefragt.
    »Der auch«, hab ich gesagt.
    Ja. Ich kannte ihr Gesicht. Trotzdem betastete ich es mit meinen Mörderhänden und tat so, als ob ich es nicht kannte. Ich betastete ihr Gesicht wie ein Blinder. Oder wie ein blinder Massenmörder. Und Hanna Lewisohn sagte nichts, hatte die Augen geschlossen, atmete heftig, atmete gegen meine Hand, auch gegen mein Gesicht ... über dem ihren ... im Finstern. Ihr Atem roch nach Cornedbeef, lieber Itzig, so wie das Cornedbeef bei Frau Holle ... denn wir

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