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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Tefillin?«
    »Ja«, hab ich gesagt. »Und die Tefillin ... die Gebets riemen.«
    »Wissen Sie noch, wie man mit den Tefillin umgeht?« hat er gefragt. »Und wie man sie vorschriftsmäßig anzieht?"
    »Ich hab's mal gewußt«, hab ich gesagt.
    Der Rabbi zeigte mir, wie man das macht ... vor schriftsmäßig ... zeigte mir, was ich fast vergessen hatte, brachte mir's wieder bei, sagte zu mir: »Das ist eine ›Mitzwa‹ ... eine gute Tat vor Gott.«
    Ja. Der Rabbi, der wollte meine Seele retten. Borgte mir seine Gebetsriemen, borgte mir sein Gebetbuch, obwohl ich doch selber eines hatte ... ein schwarzes Gebetbuch ... in meinem Koffer ... aber das wollte ich nicht auspacken ... ja ... ich habe ein Gebetbuch ... aber keine Gebetsriemen ... und so borgte ich beides ... und der Rabbi stand neben mir und paßte auf, daß ich's rich tig machte ... die Gebetsriemen vorschriftsmäßig anzog ... auch das richtige Gebet wählte ... in dem schwarzen Buch ... das lange Morgengebet, das man lange vor sich hinmurmelt ... und ich machte es zuerst falsch ... aber dann machte ich's richtig.
    Und weißt du, was dann passiert ist? Rat mal, lieber Itzig! Der Rabbi ließ mich allein. Ging auf die Toilette, ließ seinen Kaftan an der Koje hängen, auch die Pelzmütze, ging nur im Käppi auf die Toilette, noch halb entkleidet. Und da bin ich schnell mal in den schwarzen Kaftan geschlüpft. Zog mir auch den breiten Pelzhut an. Stand da ... mit meinen Gebetsriemen, im Kaftan und Pelzhut, das schwarze Buch oder den Sidur in der Hand, murmelte mein Morgengebet vor mich hin, wiegte mich rhythmisch hin und her, so wie die frommen Juden das machen.
    Und rat mal, was dann passiert ist? Rat mal, lieber Itzig!
    Als ich so dastand, tief ins Gebet versunken, da fiel ich den Kindern im Schlafsaal auf ... und die umringten mich und sagten: »Rabbi!«
    Das ist der Rabbi. Ich hab ihn dir vorgestellt. Er ist's. Und ich könnte es auch sein.
    Teiresias Pappas hab ich dir vorgestellt. Und David Schapiro. Und Max Rosenfeld. Und Wolfgang Richter ... der Richter! Andere hab ich angedeutet. Und andere stell ich dir später vor. Du mußt dich gedulden.
5.
    Alle Kinder auf der ›Exitus‹ kriegen Vitaminspritzen! Wurde groß angekündigt per Lautsprecher.
    Vitaminspritzen? Spritzen? Abspritzen? Erinnerungen?
    Lieber Itzig. Bei uns in Laubwalde wurden zuweilen, bei Sonderfällen, Spritzen verabreicht. Phenol! Tödlich!
    Ich erinnere mich: Eine Zeitlang machte ich Dienst im Lazarett, weil einer der Sanitäter krank war. Leichte Arbeit. Einmal töteten wir cirka 100 Kinder. Die Kinder wurden einzeln ins Krankenzimmer hereingeführt. Hinter einem Vorhang stand ein Stuhl. Und hinter dem Stuhl stand der Sanitäter Zalewski, ein Pole. Der hielt das Kind fest, das Kind, das gerade an der Reihe war, du weißt ja ... Und vor dem Stuhl stand ich, Max Schulz.
    Ich stand vor dem Stuhl, vor dem Kind. Immer vor dem Kind, das gerade dran war. Und ich hielt die Sprit ze mit dem tödlichen Phenol in der Hand. In welcher Hand? In der linken Hand. Denn ich bin linkshändig, lieber Itzig.
    Und dann stach ich die Nadelspitze blitzschnell ins Herz meiner Patienten, meiner Kinder. Die waren gleich tot. Kleine tote Engel.
    Nach der Ankündigung des Schiffsarztes Doktor Steiner ging ich, der Massenmörder Max Schulz, sogleich ins Krankenzimmer und meldete mich freiwillig.
    Ich sagte: »Herr Doktor Steiner. Heute können die Leute warten mit dem Haareschneiden. Wenn Sie 'ne Hilfe brauchen, dann steh' ich gern zu Ihrer Verfügung. Ich war nämlich mal Sanitäter.«
    Doktor Steiner war sichtlich erfreut. Er stellte keine Fragen. Wo? Wann? Dachte wahrscheinlich: bei den Partisanen oder sonstwo, fragte nur: »Können Sie Sprit zen verabreichen?«
    »Kann ich«, sagte ich.
    »Ich habe nämlich keinen Assistenten. Niemanden. Das ist äußerst nett von Ihnen, Herr Finkelstein.«
    Lieber Itzig. Ich habe den Kindern der ›Exitus‹ die Spritze verabreicht. Kam mir dabei wie ein Heiliger vor, ein geläuterter und verwandelter Massenmörder. Denn keines meiner Kinder fiel tot vom Stuhl!
    Seit der Vitaminkur lieben mich die Kinder. Vorher pflegten sie mich ›Herr Finkelstein‹ zu nennen. Oder: ›Herr Friseur‹. Jetzt nur noch: ›Chawer Itzig! ‹
    Weißt du, was ›Chawer‹ heißt? Das heißt ›Freund‹ oder ›Kamerad‹.
    Die Kinder umringen mich, wo immer ich bin. Ich kann mich kaum vor ihrer Liebe retten. »Chawer Itzig! Noch eine Spritze!« So geht das den ganzen lieben Tag. Oder:

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