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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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»Hoffentlich kommt er nach Palästina. Wir sind die letzten. Und ich würde ihn gerne kennenlernen.«
    Der Rabbi sagte: »Ja. Aber der ist ein Kommunist. Hat dort einen guten Posten.«
    Ich sagte: »So ...«
    Und der Rabbi sagte: »Ja.«
    Du wirst dir vorstellen können, lieber Itzig, wie sehr ich aufgeatmet hatte, als ich erfuhr, daß mein Vetter Froike Finkelstein ein Kommunist ist und nicht nach Palästina kommen würde. Die Frage ist bloß: Wie lange wird ein Sohn von Moische Finkelstein Kommunist bleiben? Wird nicht eines Tages sein jüdisches Herz wie das Herz eines Juden schlagen ... wieder schlagen? Und wird er dann nicht heimkehren? Wird er dann nicht zu uns kommen, um mit uns in einem jüdischen Land zu wohnen? - Und warum soll ich mir jetzt den Kopf zerbrechen? Vorläufig ist Froike Finkelstein ein Kommunist, wohnt in Polen, und hat keine Absicht, mir nachzureisen.
    Ich unterhalte mich oft mit dem Rabbi über jüdische Geschichte und der Rabbi ist erstaunt und zugleich erfreut, weil ich so gut Bescheid weiß. Ich habe ihm ganz offen gesagt, daß ich das Beten verlernt hatte und nach dem Krieg erst wieder üben mußte, daß es noch immer ein bißchen hapert, aber nicht sehr, daß ich selten in die Synagoge gehe, obwohl ich mir vorgenommen habe, es an Hohen Feiertagen zu tun, ja, daß ich nicht mal frühmorgens die Gebetriemen anziehe ... die Tefillin.
    »Herr Finkelstein«, hat er gesagt. »Sie sind kein typisch assimilierter Jude wie zum Beispiel Amtsgerichtsrat Wolfgang Richter. Aber halbassimiliert? Das sind Sie! Ein Halbassimilierter! Ein bißchen Tradition ist noch da ... natürlich: als Sohn von Chaim Finkelstein und Neffe von Moische Finkelstein ... wie sollte das auch anders sein ... eine fromme und angesehene Familie ... die Finkelsteins ... aber sonst ... sonst sind Sie nicht viel besser als die anderen, all die anderen Juden, die den Geist der Thora vergessen haben.«
    Nein, lieber Itzig. Ich falle nicht auf. Die meisten Juden hier auf der ›Exitus‹ sind alles andere als fromme Juden, die wenig oder gar nichts vom lieben Gott halten. Viele haben dem lieben Gott ganz offen den Krieg angesagt und stehen ›Ihm‹, dem Schirmherrn, der versagt hatte, trotzig und feindlich gegenüber.
    Ja, lieber Itzig. Gott ist ein großer Versager. Was hat er getan, als seine Kinder in die tiefen Massengräben purzelten? Welche Armee hat er zu Hilfe geschickt? Die Würmer! Lieber Itzig! Die Würmer! - Und was hat Gott für die anderen getan, die durch den Schornstein gejagt wurden? Nur die Wolken haben sich ihrer erbarmt und vielleicht der Regen, mit dem sie wieder herabgestiegen sind ... zu uns auf die Erde.
    Nein, lieber Itzig. Die meisten von uns auf der ›Exitus ‹ glauben nicht mehr an Gott. Sie fahren nach Hause, ins Land ihrer Vorväter, um Grund und Boden unter den Füßen zu haben, um einen Staat zu gründen und eine Armee, damit das nicht wieder passiert. Wir auf der ›Exitus‹ wollen keine Schafe mehr sein. Nie wieder wird man uns einfach wegführen, zur Schlachtbank. Das sind wir, lieber Itzig, wir auf der ›Exitus‹ ... nationalgesinn te Juden, das sind wir. Aber keine Frömmler. Ich hab das dem Rabbi klargemacht. Und das versteht der Rabbi. Aber der Rabbi gibt die Hoffnung nicht auf. Weißt du, was er gesagt hat? »Herr Finkelstein«, hat er gesagt. »Ich verstehe Ihre Verbitterung. Und die Verbit terung der anderen. Aber eines Tages werden Sie zu Gott zurückfinden! Sie und auch die anderen!«
    Ich kann mich noch genau an deine Barmitzwa erinnern, ein Tag, der so wichtig war in eurer Familie, wie deine Beschneidung. Du bist mit deinem Vater in die Synagoge gegangen und als du zurückkamst, da hast du zu mir gesagt: »Jetzt bin ich ein Mann. Jetzt bin ich volljährig.« Und doch warst du erst 13 Jahre alt. Aber nach dem Glauben der Juden ist der Tag der Barmitzwa der Tag der Verantwortung vor Gott.
    Lieber Itzig. Seit deiner Barmitzwa mußtest du jeden Morgen Gebetsriemen anziehen und das lange Morgen gebet vor dich hinmurmeln, so wie dein Vater, der Chaim Finkelstein, so wie ein Mann mit Verantwortung. Und in der Synagoge ... da rief man dich zur Thora auf mit deinem vollen hebräischen Namen: »Jitzchak ben Chaim!« So wie ein Mann mit Verantwortung.
    Weißt du, Itzig. Ich hab dem Rabbi gesagt: »Borgen Sie mir Ihre Gebetsriemen. Und das schwarze Buch.«
    »Was für ein schwarzes Buch?« hat der Rabbi gesagt.
    »Den Sidur«, hab ich gesagt. »Das mein' ich.«
    »Und die

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