Der Nebel weicht
so sein? Ich fürchte, Sie sind der geborene Pessimist.“
„Zweifellos. Ich habe zweimal erlebt, daß die Welt in Blut und Tränen versunken ist. Selbst vor 1914 waren schon deutliche Zerfallserscheinungen feststellbar. Angesichts solcher Tatsachen muß jeder vernünftige Mensch pessimistisch werden. Aber ich bin wirklich davon überzeugt, daß ich recht habe. Der zivilisierte Mensch ist effektiv wieder auf die Stufe des Wilden zurückgesunken. Nein, nicht einmal das, denn selbst der Wilde hat sein eigenes Lebenssystem.“
Mandelbaum wies auf die Stadt vor dem Fenster. „Ist das tierisch?“
„Ameisen und Biber sind gute Ingenieure.“ Oder waren es jedenfalls. Ich frage mich, womit die Biber sich jetzt befassen. „Bauwerke irgendwelcher Art sind im Grunde genommen unbedeutend. Sie sind nur möglich auf einem sozialen Hintergrund aus Wissen, Tradition, Wünschen und Absichten – sie sind Symptome, keine Ursachen. Uns aber ist unser gesamter Hintergrund praktisch von einem Tag auf den anderen entzogen worden.
Oh, wir haben nichts vergessen, nein. Aber es ist nicht länger von Wert für uns, höchstens noch Werkzeug für die rein animalische Tätigkeit des Überlebens mit möglichst großer Bequemlichkeit. Überdenken Sie Ihr bisheriges Leben. Welchen Sinn sehen Sie jetzt darin? Was sind Ihre großen Errungenschaften der Vergangenheit? Lächerlich!
Können Sie Werke der Weltliteratur noch mit Vergnügen lesen? Bedeuten Ihnen Künste noch etwas? Die Zivilisation der Vergangenheit mit ihrer Wissenschaft und Kunst, ihren Überzeugungen und Werten ist für uns so unzulänglich, daß wir sie einfach vernachlässigen können. Wir besitzen keine Zivilisation mehr. Wir haben keine Ziele, keine Träume, keine kreative Beschäftigung – nichts!“
„Oh, ich weiß nicht recht“, wandte Mandelbaum mit einem amüsierten Lächeln ein. „Ich habe jedenfalls in den nächsten Jahren reichlich zu tun, wenn ich überall mithelfe, wo ich einen nützlichen Beitrag leisten kann. Denken Sie nur an den weltweiten Wiederaufbau der Wirtschaft, des politischen Lebens, der ärztlichen Versorgung, der Produktion und der gerechten Verteilung aller Rohstoffe – das allein müßte für den Anfang genügen.“
„Aber später?“ fragte Rossman. „Was tun wir dann? Was tut die nächste Generation? Was tun die folgenden Generationen?“
„Sie finden bestimmt etwas.“
„Das bezweifle ich. Die Errichtung einer stabilen Weltordnung ist eine gigantische Aufgabe, aber wir sind uns doch darüber im klaren, daß die neue Menschheit sie bald gelöst haben wird – nämlich innerhalb weniger Jahre. Aber was dann? Wir können bestenfalls zufrieden ausruhen und schließlich völlig stagnieren. Ein schrecklich leeres Leben!“
„Die Wissenschaft …“
„Ja, natürlich, die Wissenschaftler erleben zunächst vielleicht ihren großen Tag. Aber die meisten Physiker, mit denen ich in letzter Zeit gesprochen habe, vermuten, daß der potentielle Bereich der Wissenschaft begrenzt, daß die Zahl der noch zu entdeckenden Phänomene und Naturgesetze endlich ist. Sie gehen davon aus, daß sie alle in einer einheitlichen Theorie zusammengefaßt werden können – und daß wir von dieser Theorie nicht mehr allzu weit entfernt sind. Natürlich läßt sich diese Voraussage nicht endgültig beweisen, aber die Möglichkeit besteht immerhin. Außerdem können wir nicht alle Wissenschaftler sein.“
Mandelbaum starrte in die Nacht hinaus. Wie still es draußen ist, dachte er. „Einverstanden, aber wie steht es mit der Kunst?“ fragte er und zwang sich, nicht an Sarah und die Kinder zu denken. „Wir müssen eine völlig neue
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