Der Nebel weicht
offene Hemden, weite Hosen und Jeans, hier und da ein gewagtes, prunkvolles Experiment. Äußerlichkeiten zählten von Tag zu Tag weniger.
Es gab keinen Dirigenten. Die Musiker schienen zu improvisieren, sie woben ihre Melodien ineinander und um einen unhörbaren Rahmen. Es war eine kühle Musik, Eis und grüne Nordmeere, das Seufzen der Saiteninstrumente war mit einem zwingenden komplexen Rhythmus unterlegt. Corinth verlor sich eine Zeitlang darin, als er versuchte, sie zu analysieren. Hin und wieder brachte ein Akkord irgendein seltsames Gefühl in ihm zum Klingen, und seine Finger schlössen sich um das Weinglas. Einige Leute tanzten und erfanden immer neue Figuren. Früher würde man das eine Jam Session genannt haben, aber dafür war es zu entlegen und intellektuell, überlegte Corinth. Ein weiteres Experiment – die gesamte Menschheit experimentierte, suchte nach immer neuen Wegen in einer Welt, die plötzlich keinen Horizont mehr besaß.
Er wandte sich wieder Helga zu und überraschte sie dabei, daß sie ihn beobachtete. Er fühlte, wie Blut heiß in sein Gesicht strömte, und wollte über etwas Unverfängliches sprechen. Aber die Übereinstimmung, das Verständnis, das zwischen ihnen herrschte, war zu groß. Sie hatten zusammen gearbeitet und einander beobachtet, und jetzt gab es ihre eigene Sprache zwischen ihnen, jeder Blick und jede Geste bedeuteten etwas, und die Bedeutungen sprangen hin und her, verknüpften sich, trennten sich und trafen wieder aufeinander, bis es so war, als ob man mit sich selbst sprach.
„Arbeit?“ fragte Corinth laut und meinte damit: (Wie haben sich deine Aufgaben in letzter Zeit entwickelt?)
„Ganz gut“, entgegnete sie ausdruckslos. (Wir vollbringen da irgend etwas Heroisches, glaube ich. Die bedeutendste Aufgabe der Weltgeschichte vielleicht. Aber irgendwie interessiert es mich besonders …)
„Glücklich, daß du heute abend bei mir bist“, sagte er. (Ich brauche dich. Ich brauche jemanden in den dunklen Stunden.)
(Ich bin immer für dich da), sagten ihre Augen.
Gefährliches Thema. Muß es meiden.
„Was hältst du von der Musik?“ fragte er schnell. „Mir scheint, sie sind auf dem Weg zu einer angemessenen Form für … den modernen Menschen.“
„Vielleicht“, meinte sie schulterzuckend. „Aber mir sagen die alten Meister immer noch mehr. Sie waren menschlicher.“
„Ich frage mich, ob wir noch menschlich sind, Helga.“
„Bestimmt“, entgegnete sie. „Wir werden immer bleiben, was wir sind. Wir werden immer Liebe und Haß, Mut und Furcht, Lachen und Schmerz kennen.“
„Aber in der gleichen Art?“ fragte er nachdenklich. „Ich bin mir da nicht sicher.“
„Vielleicht hast du recht“, meinte sie. „Es wird zu schwer zu glauben, was ich glauben will. Da ist das …“
Er nickte, und sie lächelte schwach: (Ja, wir wissen es beide, nicht wahr? Das und die ganze Welt dazu.)
Er seufzte und ballte einen Moment lang die Fäuste. „Manchmal wünsche ich, wir … Nein.“ Ich liebe nur Sheila.
(Zu spät, nicht wahr, Pete?) sagten ihre Augen. (Zu spät für uns beide.)
„Tanzen?“ fragte er. (Damit wir es schnell vergessen.)
„Gern.“ (Oh, wie … wie gern!)
Sie standen auf und gingen auf die Tanzfläche. Er fühlte ihre Kraft, als er seine Arme um ihre Taille legte, und es war ihm, als ob er davon zehrte. Mutterfigur? höhnte es in ihm. Wenn schon. Die Musik ergriff ihn jetzt stärker, ihr seltsamer Rhythmus ging ihm jetzt ins Blut. Helgas Kopf war fast in derselben Höhe wie seiner, aber sie verbarg ihr Gesicht. Er war kein guter Tänzer und überließ ihr die Führung, aber er empfand das Vergnügen rhythmischer körperlicher Bewegung deutlicher und schärfer als vor der Veränderung. Einen
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