Der Nebelkönig (German Edition)
Ob der Pâtissier schon ungeduldig auf seine
Stachelbeeren wartete? Sie hoffte es nicht, denn Armend war bei den Küchenmädchen
und Beiköchen berühmt für seine schmerzhaften Kopfnüsse – beinahe mehr als für
die schmackhaften Nachspeisen, die er bereitete. Sallie hielt inne und schloss
träumerisch die Augen. Sahniger Schokoladenpudding. Zarte Obstcreme. Krümeliges
Nussgebäck und dunkle Pralinen und vielstöckige Torten, die beinahe noch
schöner aussahen, als sie schmeckten. Nicht dass das Küchenpersonal davon etwas
abbekam, nein, die Naschereien waren ausschließlich den Herrschaften des
Südflügels vorbehalten. Aber die Rührschüsseln und Backbleche, die sich im Spülstein
stapelten, und später die Teller und Platten, die aus dem Südflügel
zurückkamen, boten schnellen Fingern und Zungen die Gelegenheit, eine Ahnung
von dem zu erhaschen, welche Genüsse dort serviert worden waren.
Sallie erinnerte sich voller
Wonne an den Tag, als einem der Küchenjungen ein Backblech voller Gebäck, das
er aus dem großen Ofen zog, aus den Händen geglitten und zu Boden gescheppert
war. Das Gebäck zerbrach und sprang durch die ganze Küche, und die Küchenhilfen
(und sogar einige der jüngeren Köche) stürzten sich johlend darauf, um so viel
von der heißen Leckerei wie nur möglich in die Münder und Taschen zu stopfen,
während Armend dastand und vor Wut beinahe platzte.
Der arme Küchenjunge hatte
eine Tracht Prügel bezogen, nach der er zwei Tage nicht mehr sitzen konnte –
aber er hatte sich danach für einige Wochen als der geheime Held des Küchenpersonals
fühlen dürfen.
Der Korb war gefüllt, und
Sallie richtete sich ächzend auf, um ihn auf ihre Hüfte zu heben. Der
Abendnebel senkte sich auf die Bäume und ließ sie zu unheimlichen Schemen im
Dämmerlicht werden, die ihre Astarme und Zweigfinger nach Sallie ausstreckten.
Sie ging den gewundenen Pfad entlang, der zum Heckentor führte, und summte ein
Mut machendes Lied.
An der stillen Gestalt, die
unter dem großen Nussbaum stand und sie beobachtete, war sie schon einige
Schritte vorbei, als sie erkannte, dass das kein Strauch gewesen sein konnte.
Sie zuckte zusammen und verlor eine Handvoll Stachelbeeren. »Hu«, machte sie
erschreckt.
Der Mann betrachtete sie mit
verwunderter Miene. Er hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt und musterte sie
gründlich. Sallie machte einen hastigen Knicks, so gut das mit dem schweren
Korb in den Händen ging.
Dies musste ein Herr aus dem
Südflügel sein. Zwar trug er einfache und schlicht geschnittene graue Kleider
ohne Schmuck oder Verzierungen, aber sie waren aus edlem Stoff, die Rüschen
seines Hemdes fielen seidig über die schimmernde Weste, und der Stock, auf den
er sich stützte, glänzte wie lauteres Silber. Sie hatte noch nie jemanden aus
dem Südflügel hier im Garten gesehen – und der Herr schaute drein, als wäre
auch er ungemein überrascht, einem Mitglied des Personals an diesem Ort zu
begegnen. Durfte sie sich womöglich gar nicht hier aufhalten? Aber wer sollte
sonst das reife Obst pflücken?
Sallie wagte einen schnellen
Blick zum Gesicht des Herrn, der immer noch stumm und starr dastand und sie
ansah. Er war nicht jung und hatte ein scharf geschnittenes, blasses Gesicht
unter einem dichten grauen Schopf. Auch seine Augen waren von einem blassen gelblichen
Grau. Er blinzelte nun langsam und hob die Hand, an der ein schwerer Silberring
schimmerte, um auf sie zu zeigen. »Wer bist du?«, fragte er.
»Sallie, Herr«, erwiderte sie
und knickste erneut.
»Wohin gehörst du, Sallie?«
»In den Ostflügel. Ich bin
Küchenmädchen.« Sie deutete entschuldigend auf die Stachelbeeren. »Der
Pâtissier wartet auf mich, Herr. Ich bringe die Beeren für den Nachtisch.«
»So. Der Nachtisch.« Der Herr
legte seine Hände auf dem Knauf des Stockes zusammen und nickte ihr zu. »Dann
lauf, Sallie. Bring dem Pâtissier seine Beeren.«
Erleichtert knickste sie ein
drittes Mal und lief davon, ohne sich umzusehen. Ihre Pantinen klapperten laut,
der Rock flog um ihre Beine, und sie kümmerte sich nicht darum, dass Stachelbeeren
aus ihrem Korb hüpften und über den Boden kullerten. Sie rannte durch das
Heckentor, durchquerte den dämmrigen Gemüsegarten, ohne die tanzenden
Glühwürmchen zu beachten, die ihr sonst so ein Entzücken bereiteten, und
rettete sich durch die einladend offen stehende Küchentür ins warm erleuchtete
Innere des Hauses.
Als sie später, nach dem Ende
ihres Dienstes, in der
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