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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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sinken und sah ihn gespannt an.
    »Die Welt«, begann Uhl, »ist
viel größer als dies hier.« Er machte eine kreisende Bewegung, die die Bibliothek
umfasste. Sallie nickte, denn das wusste sie. So viel sie sich auch im Haus
umgetan hatte, sie hatte noch lange nicht alles gesehen, was es zu sehen gab.
Allein der geheimnisvolle Südflügel und dann der Große Turm, weite Teile des
Hauptgebäudes und die Kellergefilde unterhalb des Küchentraktes ...
    »Diese Geschichte – und alle
anderen Geschichten, die ich dir zu lesen gegeben habe – hat sich nicht an
diesem Ort abgespielt«, unterbrach Uhl ihre wandernden Gedanken. »Dort draußen,
außerhalb der Mauern dieses Hauses, liegt eine Welt, in der es Berge und Flüsse
und Dörfer und Städte, Ozeane, Wälder, Wind und Regen, Sonne und Mond und
viele, viele andere Dinge gibt.«
    Sallie blinzelte verwirrt.
»Draußen?«, fragte sie. »Was meinst du damit? In einem der Gärten? Oder gibt es
noch Höfe, in denen sich all das Wunderbare findet?«
    Uhl räusperte sich ratlos.
Sallie fiel die seltsame Beobachtung ein, die sie im Obstgarten gemacht hatte.
»Ist das der Grund dafür, dass ich von hier aus den Garten nicht sehen kann,
obwohl ich vom Garten aus die Bibliothek sehe?«
    Uhl verlor nun vollständig den
Faden. »Hrrrm«, krächzte er verwirrt, »nein, nein, das ist ganz etwas anderes.
Kind, du machst mich mit deinen Fragen ganz konfus. Nun lass mich doch erst
einmal erklären ... Was wolltest du gleich wissen? Warte, ich zeichne es dir
auf. Oder nein, hier müsste doch irgendwo ein Buch sein ...« Er sprang auf und
verschwand in der Finsternis zwischen den Regalen.
    Sallie wartete ein Weilchen
auf seine Rückkehr, dann vertiefte sie sich wieder in ihr Buch. Während sie
las, zwirbelte sie gedankenverloren Locken in ihr glattes Haar. Der böse König
war also für alle Ewigkeit eingeschlossen worden und alle mit ihm, die ihm bis
zum Schluss die Treue gehalten hatten. Die Siegerin hatte das Haus, das nun
sein Gefängnis war, in ein magisches Feld gesperrt, in dem es keine Zeit mehr
gab.
    Sallie hörte auf zu lesen und
genoss den gruseligen Schauder, der ihr über den Rücken lief. Eingeschlossen
für alle Ewigkeit! Und es gab keine Zeit mehr. Das bedeutete, dass die Gefangenen
nicht alterten und nicht starben. Tag für Tag, Jahr für Jahr mussten sie in
ihrem Gefängnis ausharren, in immer der gleichen Gesellschaft, im immer
gleichen Trott der eintönigen Tage und Nächte. Sallie schüttelte sich. Wie unendlich
langweilig!
    Sie senkte den Blick auf die
Buchseite. »Die Katzenkönigin war von ihrem Kampf und dem gewaltigen magischen
Werk, das den Nebelkönig verbannte, zu Tode erschöpft«, las sie und stockte.
    »Uhl?«, rief sie leise, denn
der Bibliothekar hatte ausnehmend gute Ohren. »Uhl, wieso heißt die Magierin
›Katzenkönigin‹?«
    Sie hörte, wie Uhl
zurückkehrte. Er atmete schwer. »Ich habe eine Karte gefunden«, keuchte er und
ließ sie vor Sallie auf den Tisch plumpsen. »Was hast du mich gefragt, liebes
Kind?«
    »Katzenkönigin«, wiederholte
Sallie. »Warum wird sie so genannt?«
    Uhl ließ sich auf seinem Stuhl
nieder und prustete. »Ich bin kein junger Hüpfer mehr«, beklagte er sich.
»Langsam, Sallie. Eins nach dem anderen.«
    Er rollte die Karte aus und
schob Bücher auf ihre Ecken, damit sie sich nicht wieder zusammenrollte. »Sieh
hier«, deutete er, »das ist die Welt, wie sie vor dem Kampf der beiden Magier
aussah. Dort ist der große Ozean, dort das südliche Meer, dort das Nordgebirge,
dort sind die Ebenen des Westens, dort Wälder und Sümpfe, dort ist eine große
Hafenstadt ...« Er murmelte und deutete auf grün und blau und braun gezeichnete
Flecken und Punkte, Striche und Zacken.
    Sallie begann der Kopf zu
schwirren. »Hör auf, Uhl, bitte«, sagte sie. »Ich verstehe das alles nicht. Wo
ist der Küchentrakt? Und wo der Große Turm, der Obstgarten, die Bibliothek, der
Südflügel, der Keller ...?«
    Uhl sah sie hilflos an. »Das
ist nicht ...«, begann er. »Das ist ... Das hier ist die Welt, Kind, verstehst
du nicht? Die ganze Welt!« Er wedelte mit den Armen herum. »Wir sind in einem
Haus. Ein großes Haus, zugegeben. Ein sehr großes Haus sogar. Aber doch sehr
viel kleiner als die Welt. Du würdest es hier auf der Karte gar nicht finden
können, so klein ist es im Gegensatz zu alldem hier!« Er tippte wild auf der
Karte herum.
    Sallie schüttelte stur den
Kopf. »Du willst mich auf den Arm nehmen. Das ist nicht nett von dir,

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