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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Bibliothek hockte, die Füße auf den Sitz gezogen, und
ihren Kopf im warmen Lichtschein der Lampe über ihr Buch beugte, war die
Begegnung im Obstgarten so gut wie vergessen.
    In dem weitläufigen Raum
brannte kein Licht außer der kleinen Lampe auf dem Tisch, an dem sie mit dem
Bibliothekar saß. Ringsum raschelten und atmeten die alten Bücher und ächzten
und knarrten die schwer beladenen Regale, die Bodendielen knackten und der
ganze dunkle Raum schien sich sanft atmend zu bewegen. Sallie saß in der
kleinen Lichtinsel in ihren Sessel gekuschelt und las mit heißen Wangen in dem
neuen Buch, das Uhl ihr herausgesucht hatte.
    Der Fluch, den der alte Drache
sterbend gegen seinen Pflegesohn ausgesprochen hatte, bedrückte seinen Mörder
nicht lange, denn allzu wirkungslos und ohne Sinn erschienen die Worte.
    Doch es gab andere Ohren, die
ihn vernommen hatten, und durch sie wanderte der Fluch flüsternd von Mund zu
Mund, von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf und wurde schließlich über die Zeit weitergegeben
von den Eltern an ihre Kinder und von diesen wiederum an ihre Nachkommenschaft.
    Die Macht des mörderischen
Drachensohns wuchs mit jedem verstreichenden Jahr, und je mächtiger er wurde,
desto verzweifelter bauten die Menschen all ihre Hoffnung auf die letzten Worte
des alten Drachen.
    Der blutige Aufstieg des
Zöglings dauerte kaum ein Menschenalter. Das Drachenauge verlieh ihm zwar ein
nahezu ewiges Leben, aber ohne das letzte Geheimnis blieb ihm die vollständige
Herrschaft über die Zeit verwehrt. Dennoch war der Nebelkönig, wie ihn seine
furchtgeschüttelten Untertanen nannten, der mächtigste Magier, den das
Menschengeschlecht jemals hervorgebracht hatte.
    Seine Schreckensherrschaft lastete
auf der Welt mit ihren Ozeanen und Gebirgen, Wäldern und Seen, Menschen und
anderen Geschöpfen. Seine Anhänger – denn auch sie waren zahlreich – feierten
ihren Herrscher und folgten ihm willig auf seinem blutigen Pfad.
    Doch inmitten des unterdrückten
Volks lebte eine Frau, die mehr von der Alten Macht in sich trug als alle ihre
Geschwister. Sie verbarg sich vor dem alles sehenden Auge des Königs und lernte
in der Verborgenheit vom Wind und den Bäumen, von den Vögeln des Feldes und den
Tieren des Waldes, von der Sonne und vom Mond, aus den alten Erzählungen und
den nur flüsternd weitergetragenen Prophezeiungen ihrer Vorfahren. Und
schließlich trat sie aus dem Dunkel hervor und forderte den Nebelkönig zum magischen
Duell.
    Der Kampf dauerte zehn Jahre
und einen Tag. Doch, was kaum einer zu hoffen gewagt hatte, er endete mit einem
Sieg der Herausforderin. Dennoch war ihr Triumph nicht vollständig: Sie vermochte
nicht, den Nebelkönig endgültig zu vernichten, denn ihn schützte das mächtige
Drachenauge. Immerhin gelang es ihr, ihn mit einem starken Bann zu belegen, der
ihn in seine Burg einschloss, damit er niemals wieder Unheil über die Welt
bringen konnte.
    Der Bibliothekar hockte auf
seinem Stuhl, die Augen halb geschlossen, und döste vor sich hin. Uhl döste
eigentlich immer, jedenfalls am Tag. Jetzt, wo es Nacht wurde, wurde er langsam
munterer, und dann freute sich Sallie immer, wenn sie mit ihm über all das
sprechen konnte, was sie gelesen oder am Tag erlebt hatte.
    »Uhl?«, fragte sie.
    Der Bibliothekar öffnete ein
Auge und sah sie an.
    »Uhl, kannst du mir das hier
erklären, bitte?« Sie rückte das Buch in ihrem Schoß zurecht, legte einen
Finger auf die Stelle, die sie vorlesen wollte, und begann: »Durch sie wanderte
der Fluch flüsternd von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf und
wurde schließlich über die Zeit weitergegeben von den Eltern an ihre Kinder.«
Sallie hob den Kopf und sagte: »Warte, da ist noch eine Stelle. Hier: Seine
Schreckensherrschaft lastete auf der Welt mit ihren Ozeanen und Gebirgen,
Wäldern und Seen, Menschen und anderen Geschöpfen. Sag, Uhl, wo ist das alles
passiert? Im Südflügel? Und was sind Dörfer und Ozeane, Gebirge und Wälder für
Dinge? Ich habe davon früher schon gelesen, aber ich kann mir das alles nicht
so recht vorstellen.«
    Der Bibliothekar gab ein
seufzendes Geräusch von sich und rieb sich die Augen. »Liebes Kind«, sagte er
sinnend, »Das sind viele Fragen auf einmal. Vielleicht beginne ich mit der
ersten, denn sie umfasst das Ganze wie eine Nussschale den Kern.« Er räusperte
sich und ruckelte ein wenig hin und her, wie er es immer tat, wenn er länger
ausholen wollte.
    Sallie ließ sich in die
Umarmung des tiefen Sessels

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