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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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deutete auf einen großen Henkelkorb, der auf dem Weg stand. »Der
Pâtissier braucht Stachelbeeren für den Nachtisch. Du weißt ja inzwischen, wann
sie reif sind. Oder?«
    Sallie nickte erfreut. Der
Obstgarten war der schönste Fleck von allen Gärten hier im Haus. Natürlich, sie
liebte auch den Kräutergarten, und die Gemüsegärten waren wundervolle, wohlriechende
Orte. Aber der Obst garten war das Paradies, das sie nur selten alleine
betreten durfte!
    Eilig klemmte sie sich den
Korb unter den Arm, ehe der Gärtner es sich anders überlegte, und rannte den
Weg hinab. Die hohe Hecke, die den Obstgarten umschloss, ragte vor ihr auf wie
eine grüne Wand. Sallie lief an ihr entlang und schlüpfte durch den Durchgang,
der die beiden Gärten verband.
    Es war still im Obstgarten.
Sallie ging langsam, jeden Schritt genießend, unter den Bäumen vorbei und murmelte
ihre Namen. Apfelbaum, Birnbaum. Kirsche und Quitte. Hallo lieber Pflaumenbaum.
Aprikose, Mirabelle, oh, der große Nussbaum!
    Dann die wunderbar duftenden
Büsche. Sallie tanzte den Weg entlang. Johannisbeere, Sternbeere, Brombeere,
Himbeere und die niedrigen Blaubeeren und Preiselbeeren. Und dort, dort waren
die bestellten Stachelbeeren, die verlockend reif aus dem dunklen Laub
hervorschauten.
    Sallie stellte den Korb ab und
begann zu pflücken, wobei sie sich kräftig in die Finger stach. Aber das konnte
ihre Laune nicht verderben. Sie pflückte, sang dazu ein Liedchen, das vom
Pflücken handelte, und steckte gelegentlich eine der Früchte in den Mund. Sie
genoss das Gefühl, mit dem die dicke Haut der Stachelbeere platzte, um den
puddingweichen, süßen Inhalt freizugeben, der sonnenwarm auf ihrer Zunge
zerschmolz.
    Als sie den Korb zur Hälfte
gefüllt hatte, gönnte sie sich eine Pause. Sie wickelte den Rock um ihre Beine,
zog die Füße darunter und blickte blinzelnd in den dunstigen Himmel. Über ihr
war nichts als diffuses Licht und das endlose Grau des Tages, in dem der Blick
sich ins Unendliche verlor. Sie konnte nicht sagen, ob der Himmel nun zum
Greifen nah über ihrem Kopf oder hoch und weit entfernt war, und eine Weile
vergnügte sie sich damit, sich beides abwechselnd vorzustellen.
    Als ihr das langweilig wurde,
ließ sie ihren Blick wandern. Rundum über die Hecken und Bäume des Gartens
ragten die Mauern des Hauses dunkel und mächtig auf. Türme stiegen in den Himmel
empor und verschwanden irgendwo im Nebel. Sallie drehte müßig den Kopf und
zählte die Fenster, aber wie immer verlor sie nach einigen Minuten den Faden.
Hatte sie die Reihe dort auf der Westseite schon mitgezählt? Und was war mit
den Balkonen der Nordseite, sollte sie die auch als Fenster gelten lassen oder
waren es eher Türen?
    Die Ostseite war einfach, dort
befand sich der Küchentrakt. Diesen Flügel kannte sie von außen und von innen
wie ihre eigene Schürzentasche. Aber dort, der geheimnisvolle Südflügel besaß
eine Unmenge von Fenstern und Maueröffnungen, Altanen und vorspringenden Balkonen.
    Ihr Blick sprang von Nord nach
Süd, von Ost nach West. Sie runzelte die Stirn und zog die Lippe zwischen die Zähne.
Wie konnte es angehen, dass sie vom Garten aus all die Flügel des Hauses sehen
konnte? Sie umgaben den Garten wie ein Rahmen das Bild. Wenn sie aber im Haus
war und vom Ostflügel zur Nordseite gelangen wollte, dann war das Haupthaus
dazwischen – zwar konnte sie die Abkürzung durch den Kräutergarten nehmen, aber
der lag in einem kleinen Innenhof, der wiederum gänzlich vom Nordflügel
eingeschlossen war.
    Bei dem Versuch, sich den
Aufbau des Hauses vorzustellen, begann Sallie der Kopf zu schwirren. Irgendwie
schienen Innen und Außen nicht recht zusammenzupassen. Zum Beispiel diese Fenster
dort, die der Bibliothek gehören mussten. Von hier aus betrachtet sah es so
aus, als könnte man von ihnen genau auf den großen Balkon des Südflügels
blicken. Wenn sie aber aus dem Fenster der Bibliothek schaute (was
zugegebenermaßen selten vorkam, denn sie hatte dort wahrhaftig Besseres zu
tun!), dann hatte sie den Großen Turm vor der Nase, und tief unten lag der
kleine efeubewachsene Hof, in dem die Köche gerne ihre Pause verbrachten. Und
überhaupt, den Obstgarten hatte sie aus keinem der Fenster des Ostflügels
jemals sehen können.
    Verwirrt schüttelte sie den
Kopf. Wieder eine Frage, die sie Uhl zu stellen hatte.
    »Auf, trödele nicht herum!«,
befahl sie sich. Sallie sprang auf die Füße und pflückte hurtig den Korb voll.
Wie spät mochte es wohl sein?

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