Der Nebelkönig (German Edition)
begann die Buchrücken in den Regalwänden zu erahnen. Hier und da
schimmerte es golden und narrte ihren Blick. Noch nie war ihr jemand in der
Bibliothek begegnet, und sie starb vor Neugier, wer sich wohl hier aufhalten
mochte. War da noch jemand, der sich von Uhl all die wunderbaren Bücher
heraussuchen ließ? Vielleicht konnte sie sich mit ihm darüber unterhalten, was
er gerade las.
Sie blieb stehen und schloss
für einen kurzen Moment die Augen. Es war ihr noch nie aufgefallen, aber
eigentlich unterhielt sie sich nie mit jemandem. Zumindest nicht richtig.
Natürlich sprach sie mit den Beiköchen oder den Küchenhilfen. Sie grüßte, wenn
eine Herrschaft ihren Weg kreuzte. Sie redete mit Andres, dem Gärtner. Aber das
waren alles keine echten Gespräche, sondern nur kurze Wortwechsel, in denen sie
Anweisungen entgegennahm oder Fragen zu ihren Aufgaben stellte.
Natürlich gab es da immer noch
Kaltrina und Luan und auch Uhl, die Einzigen hier im Haus, mit denen sie sich
über andere Dinge als die Arbeit unterhalten konnte. Aber es war eben nicht so
befriedigend, mit den dreien zu reden. Kaltrina und Luan waren immerzu sehr
beschäftigt – wobei Sallie nie so recht begriff, was sie eigentlich taten –,
und Uhl, mit dem sie doch am häufigsten und längsten von ihren Freunden
zusammen war, hatte meist etwas Lehrerhaftes an sich, was vielleicht daran
liegen mochte, dass er so viel älter war als sie.
Sallie legte nachdenklich den
Finger an die Nase. Sie würde morgen den seltsamen Jungen im Keller besuchen,
statt hierherzukommen. Die Bücher hatten ihr in den letzten Nächten so viel
Stoff geliefert, dass sie ohnehin erst einmal zusehen musste, über all das in
Ruhe nachzudenken und es in ihrem Kopf zu ordnen.
Mit einem kleinen Erschrecken
öffnete sie ihre Augen. War das Licht fort? Aber nein, dort leuchtete es, und
viel heller als zuvor, weil eine Weile vergangen sein musste.
Sie zog ein paar Bücher aus
dem Regal vor ihrer Nase und versuchte durch den Spalt einen Blick auf den
Menschen zu erhaschen, der dort am Tisch saß. Er wandte ihr halb den Rücken zu
und sein Gesicht lag im Dunkeln, aber sie konnte erkennen, dass er das Kinn in
die Hand gestützt hatte und auf eine Buchseite blickte. Während sie ihn
beobachtete, hob er die Hand und blätterte um, und dabei veränderte er seine
Haltung um eine Kleinigkeit, sodass das Licht der Lampe auf sein Gesicht fiel.
Sallie atmete überrascht ein.
Das war der Graue Herr, dem sie im Obstgarten begegnet war!
Er hob den Kopf, als hätte er
ihr Erstaunen gespürt. Sallie erstarrte bis in die Spitzen ihrer Haare. Sie
wusste nicht, ob sie sich hier überhaupt aufhalten durfte. Wahrscheinlich
nicht, denn sie war noch keinem Bediensteten zwischen den Bücherreihen
begegnet. Allerdings war sie hier überhaupt noch nie jemandem über den Weg
gelaufen – auch niemandem von der Herrschaft.
Der Graue Herr senkte den
Blick wieder auf sein Buch. Sallie entließ den angehaltenen Atem und schob so
leise wie ein Federchen, das fällt, die Bücher wieder in ihre Lücke zurück.
Dann ging sie einen Schritt rückwärts und stieß gegen einen Hocker, der dort im
Dunkeln auf sie gelauert hatte.
»Wer ist da?«, hörte sie den
Grauen Herrn rufen.
Sallie, die sich das Bein rieb
und lautlos mit sich schimpfte, antwortete nicht. Vielleicht glaubte er ja,
dass irgendwo ein Buch aus dem Regal gefallen sei.
»Komm ins Licht, damit ich
dich sehe«, ließ die Stimme ihre Hoffnung zerstieben.
Sie richtete sich auf, strich
hastig ihre Schürze glatt und trat mit einem tiefen Knicks vor das Regal.
Der Mann blieb eine ganze
Weile lang stumm. »Du«, sagte er dann, und es klang überrascht. »Wir sind uns
doch schon einmal begegnet, im Garten?«
Sallie hob den Blick und sah
ihn an. »Ja, Herr«, erwiderte sie. »Ich bin das Küchenmädchen.«
Er hatte sich zurückgelehnt
und sie konnte seine Miene nicht erkennen. Nur das Weiße in seinen Augen
glänzte im Widerschein der Lampe.
»Das Küchenmädchen«,
wiederholte er. »Du darfst dich hier aufhalten?«
Sallie schluckte. »Der
Bibliothekar hat es mir erlaubt«, sagte sie mutig.
»Der Bibliothekar?« Der Graue
Herr beugte sich vor und sah sie fragend an. »Ich wüsste nicht, dass es hier
einen Bibliothekar gibt.«
»Aber natürlich. Jemand muss
das alles hier doch in Ordnung halten.«
Der Herr sah sich betont um.
»Nun ja«, sagte er gedehnt.
Sallie folgte seinem Blick und
errötete. Dort in der Ecke, gerade noch von der Lampe
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