Der Nebelkönig (German Edition)
deckenhohen Regalen und Schränken.
5
Zum ersten Mal hatte Sallie ein
Buch einfach aus der Bibliothek mitgenommen. Sie hatte es in ihr Schultertuch
gewickelt und mit klopfendem Herzen in den Saal getragen, in dem schon alle
schliefen. Langsam zog sie den löchrigen Korb unter ihrem Bett hervor, in dem
sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, und stopfte das Buch hinein. Sie
deckte es mit einigen Fetzen Stoff zu und schob den Korb wieder tief unter ihre
Bettstelle.
Dann schlüpfte sie unter die
dünne Decke, krümmte ihre kalten Zehen und starrte ins Dunkel. Das Atmen, Schnarchen,
Seufzen und Geraschel der Menschen im Saal begleitete ihre Gedanken wie eine
altvertraute Melodie. Warum hatte sie das Buch mitgenommen? Sie würde es Uhl
erklären müssen, der ihr eingeschärft hatte, niemals eins der Bücher aus der
Bibliothek zu entfernen. Überdies hatte er ihr Wort, dass sie nicht
eigenmächtig irgendwelche Bücher aus den Regalen nahm, sondern nur das las, was
ihr gegeben wurde.
Gut, dieses Buch war ihr
gegeben worden – wenn auch nicht von Uhl. Aber immerhin war es jemand von der
Herrschaft gewesen, der es ihr geliehen hatte. Das musste doch gelten.
Sie schloss die Augen und
summte ein wenig, um sich zu beruhigen. Wie gerne hätte sie in dem Buch
gelesen, aber Sallie wagte es nicht, eine Kerze zu entzünden. Wenn jemand sie
lesen sah, würde das Ärger geben, das wusste sie. Es gab immer Ärger, wenn ein
Küchenmädchen etwas anderes tat, als die Köche ihr auftrugen.
Sallie krabbelte aus dem Bett
und holte das Buch wieder unter dem Bett hervor. Sie fuhr mit den Fingerspitzen
über das geprägte Leder des Einbands und versuchte sich den Titel in Erinnerung
zu rufen, wie er auf dem Deckblatt gestanden hatte. »Der Kampf der Magier«.
Sie schlug das Buch auf,
befühlte das Papier, roch daran. Auch wenn sie die Seiten ganz nah an ihre
Augen hielt, konnte sie nicht lesen, was dort geschrieben stand, dafür war es
einfach zu dunkel im Schlafsaal. Mit einem Seufzer schob sie das Buch wieder
tief in den Korb und huschte zurück in ihr Bett.
Sie glaubte, kaum die Augen
zugemacht zu haben, als die laute Glocke sie schon wieder aus dem Schlaf riss.
Es war noch dunkel draußen, und im Saal regten sich murmelnd und seufzend
diejenigen, die wie sie früh ihren Dienst antreten mussten. Sallie tapste zur
Tür und stellte sich vor der großen Waschschüssel an. Als sie endlich drankam,
war das Wasser darin zu einer kleinen Pfütze geworden, in die sie ihre Hände
tauchte, um damit fest durch ihr verschlafenes Gesicht zu rubbeln. Sie zog den
zahnlückigen Kamm aus ihrer Schürzentasche und ziepte damit durch ihr
zerzaustes Haar, bis es sich zu einem halbwegs ordentlichen Zopf flechten ließ.
Sallie schnäuzte ihre von der
Kälte laufende Nase in ihre Schürze und lief mit klappernden Pantinen durch den
eiskalten Gang hinüber in die Küche. Bullernde Feuer in den Öfen sorgten dafür,
dass ihre klammen Finger und eisigen Zehen wieder auftauten.
Einer der Beiköche packte ihr
einen Korb mit Zwiebeln auf. »Schälen und klein schneiden«, sagte er.
Sallie schleppte den Korb zu
einem freien Tisch und holte sich ein Messer. Hinter ihr schimpfte der kahle
Leka mit einem der Hilfsköche, weil er eine Brühe versalzen hatte. »Kein
Salz!«, hörte sie Leka brüllen. »Wie oft habe ich es euch schon gesagt? Kein
Salz«, an dieser Stelle verpasste er dem jammernden Hilfskoch eine feste
Kopfnuss, »an die Knochenbrühe!«
Sallie begann die Zwiebeln zu
schälen, und es dauerte nicht lange, bis ihr von den scharfen Ausdünstungen das
Wasser in die Augen stieg.
Schniefend und sich mit dem
Ärmel die Augen wischend schälte und hackte sie, während es hinter ihr klirrte
und schepperte, die gebrüllten Befehle des kahlen Leka und die Antworten der
Beiköche durch die dicke, heiße Luft flogen und ein emsiges und eiliges Laufen
und Hantieren seinen Fortgang nahm. Es war noch unruhiger und hektischer als
sonst, also stand wahrscheinlich wieder eine Gesellschaft bevor. Sallie scherte
sich nicht um das Treiben, das sie umgab, sie schälte und hackte sich durch
einen ständig nachwachsenden Berg von Zwiebeln, dann Möhren, Kartoffeln,
Sternknollen, bis ihre ganze Welt nur noch aus Gemüseschalen und stücken und
dem tanzenden, blitzenden Messer in ihrer Hand zu bestehen schien.
Lärm und Hitze und Laufen und
Schreien. Sallie begann müde zu werden von alldem. Sie sehnte sich nach einer
Pause, nach ein
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