Der Nebelkönig (German Edition)
überhaupt ein Buch oder
nicht vielmehr ein Brief?, fragte sie sich, während sie tief in das Innere des
Hauses eindrang. Doch wie konnte es ein Brief sein? Die Katzenkönigin selbst
sagte, dass die Geschichte vom Nebelkönig und dem Tod des letzten Drachen vor
langer, langer Zeit geschehen war.
Sallie blieb stehen und
starrte ein Bild an, das einen missvergnügt dreinblickenden kleinen Jungen im
dunkelroten Samtanzug unter einer verwelkenden Topfpalme darstellte. Wenn das
stimmte, dann war auch das Buch, das sie bei sich trug, vor langer, langer Zeit
geschrieben worden. Wie konnte dann die Katzenkönigin wissen, dass sie, Sallie,
es von Uhl bekommen würde?
Ihr wurde schwindelig, als sie
darüber nachdachte. »Irgendjemand lügt hier ganz fürchterlich«, sagte sie laut.
Der missvergnügte kleine Junge
auf dem Bild schien noch ein wenig mürrischer dreinzuschauen, und Sallie lachte
und zeigte ihm die Zunge. Danach ging es ihr besser und sie wanderte weiter
durch Korridore, Gänge und Flure, die sie noch nie zuvor betreten hatte. Auf
ihrem Weg begegnete sie niemandem, und obwohl nirgends ein Staubkörnchen zu
sehen war und es frisch und sauber roch, war der Eindruck der eines verlassenen,
unbewohnten Hauses, in dem außer ihr und möglicherweise ein paar Mäusen und
Spinnen niemand atmete.
Sallie hätte sich gerne
irgendwo hingesetzt, aber in dem getäfelten Gang, der allem Anschein nach von
irgendwo nach nirgendwo führte, gab es kein Möbelstück, das sich für diesen
Zweck angeboten hätte.
Kurz entschlossen klopfte sie
an die Tür, vor der sie stand. Wenn jemand öffnete, würde sie sagen, dass sie
sich verlaufen hätte, und nach dem Weg fragen.
Nichts rührte sich, also
öffnete sie die Tür und spähte ins Zimmer. Es war klein und gemütlich, mit
einem winzigen Sofa und einem Tischchen davor, zwei Stühlen mit gebogenen
Beinen und rot bezogener Sitzfläche und einer kleinen Kommode. Sallie seufzte,
so ein Zimmerchen hätte sie gerne für sich gehabt. Sie zog die Tür leise hinter
sich ins Schloss und strich sacht über die Armlehne des Sofas. »Darf ich?«,
fragte sie. Das Sofa antwortete nicht, aber seine Kissen lächelten einladend,
und deshalb ließ Sallie sich darauf nieder. Sie lehnte sich zurück, seufzte
noch einmal, weil es so behaglich war, schlüpfte aus ihren Pantinen und zog die
Füße unter den Rock.
»Nun schauen wir mal«,
murmelte sie und holte das Büchlein hervor. »Was möchtest du mir sagen, Katzenkönigin?«
Und als sie die Seiten
umblätterte, sprangen Worte darauf, die vorher nicht dort gestanden hatten.
Sallie blinzelte verwirrt.
Solange du nicht die richtigen Fragen stellst, werden wir nicht weiterkommen,
las sie. Was möchtest du also wissen, Sallie?
»Wie kannst du hierdurch mir
mir sprechen? Das ist doch nur ein Buch.« Sallie betrachtete es. Ordentliche
schwarze Lettern standen auf den Seiten wie in jedem Buch. Sie blätterte
schnell darin herum und alle Seiten waren eng bedruckt. Sie fasste eine Zeile
weiter hinten ins Auge. Jedes Buch spricht
mir dir, wenn du es liest , stand dort.
Sallie blätterte schnell
wieder vor, an eine andere Stelle.
Aber diese Geschichte betrifft dich selbst. Während du liest, bekommst du
die Antworten, die du suchst .
Sallie schnaubte. »Und wenn
ich gar nichts suche? DU hast gesagt, dass du meine Hilfe brauchst.«
Wer ist deine Mutter?
Sallie starrte auf die Seite.
Jede Zeile sagte das Gleiche: »Wer ist deine Mutter?«
»Meine Mutter war Küchenhilfe,
so wie ich«, sagte sie. Aber die Frage bohrte und nagte. Sie konnte sich nicht
an ihre Mutter erinnern. Alles, woran sie sich erinnerte, war ihr Leben als
Küchenmädchen. Sie putzte Gemüse, schälte Kartoffeln, wusch Töpfe und Pfannen
und fegte auch einmal die Küche, wenn der Scheuerjunge zu viel zu tun hatte.
»Das ist doch alles viel zu
lange her«, sagte sie energisch, um das Gefühl der Trauer zu verscheuchen, das
mit spitzen Zähnen in einem Winkel ihrer Seele lauerte. »Warum fragst du mich
nach meiner Mutter?«
Einen Moment lang war die
Seite, auf die sie blickte, leer und stumm. Dann erschienen zögernd Worte. Ich ... habe ... deine Mutter ... gekannt .
Sallie schnaubte wieder. »Eine
Menge Leute haben meine Mutter gekannt.« Das klang sehr gelassen und erwachsen,
wie sie fand. Aber etwas störte sie. »Du hast gesagt, der Nebelkönig ist schon
lange, lange vergessen. Aber er war dein Freund. Wie kannst du also meine
Mutter kennen?« Sie log, die Stimme, die sich selbst
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