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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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und kräftig wie ein
Schnabel, und seine Hände waren knorrig, mit alterskrummen Fingern. Das braune
Gewand mit herabhängender Kapuze, das er trug, war verschossen und geflickt.
Sallie kannte den alten Mann nicht, der dort im Stuhl saß, aber trotzdem
erinnerte er sie an Uhl, den Bibliothekar.
    »Wie geht das?«, fragte sie.
»Was bist du wirklich?«
    Uhl rieb sich mit der seltsam
vertrauten Geste mit dem gekrümmten Zeigefinger über die Augen. »Was ich
wirklich bin? Ich bin eins der Geschöpfe, die auf der Welt wandeln. Ein Kind
der Drachen. Es gibt Menschen, es gibt Tiere und es gibt uns.«
    Sallie starrte ihn fasziniert
an. »Gestaltwandler«, sagte sie. »Ich habe davon gelesen und nicht gewusst, was
das bedeutet.«
    Er nickte. »Sie meinte, es
wäre zu gefährlich, wenn wir in unserer menschlichen Gestalt hier im Haus leben.
Er kennt uns.«
    »Bardh, der Wolf. Der
Nebelkönig.«
    Uhl bejahte.
    Nachdenklich rieb sich Sallie
die Nase. »Du willst damit also sagen, dass wir hier in diesem Gefängnis leben?
Unser Haus ist das Zeitgefängnis, in das die Königin ihn gesperrt hat?«
    Uhl gab einen klagenden Laut
von sich. »Ich hätte es dir nicht verraten dürfen!«, jammerte er. Mit einem
Zucken seiner Schultern kehrte er in seine vorherige Gestalt zurück und flog
auf die Stuhllehne.
    »Bleib hier«, rief Sallie. »Du
kannst doch nicht immer weglaufen, wenn ich dir eine Frage stelle. Wen soll ich
denn sonst fragen? Den Apotheker?«
    »Nein, nein«, sagte Uhl
hastig. »Lass ihn aus dem Spiel. Weder er noch der verrückte Junge im Keller
sind vertrauenswürdig, Sallie. Geh beiden aus dem Weg, hörst du? Das ist das Beste.«
    Sallie verschränkte die Arme.
»Meister Korben ist sehr freundlich zu mir. Er möchte, dass ich seine Gehilfin
werde.«
    Uhl verdrehte die Augen und
schüttelte sich. »Hör nicht auf ihn«, warnte er. »Sallie, liebes Kind, der
schwarze Ben ist ein Heimlichtuer und ein Verführer. Er schleicht und flüstert
und spinnt Ränke. Er wäre nicht hier im Haus, wenn er Gutes im Schilde führte,
vergiss das nicht!«
    Sallie schwieg. Wenn das, was
Uhl sagte, die Wahrheit war, dann gehörten alle Bewohner des Hauses zum Gefolge
des Nebelkönigs. Sie mochte es kaum glauben. Frau Lulezime und der freundliche
Koch Imer – die dunklen Begleiter des bösen Königs? Das war doch wohl
lächerlich! Und Uhl wirkte in der letzten Zeit so verwirrt und verloren, dass
sie nicht wusste, ob sie seinen Worten Glauben schenken durfte.
    »Ich muss nachdenken«, sagte
sie laut.
    »Tu das«, erwiderte der
Bibliothekar erleichtert. »Es ist immer gut, nachzudenken. Und lies das Buch!«
Er klopfte bekräftigend mit der Kralle auf die Stuhllehne.
     
    Es war spät geworden. Sallie
ging langsam zum Schlaf-saal zurück und ließ die Gedanken in ihrem Kopf zur
Ruhe kommen. Morgen erwartete sie ein langer, anstrengender Tag, und für den
Augenblick war es doch gleich, ob sie hier in dem verhexten Zeitgefängnis mit
den Gefolgsleuten des Nebelkönigs steckte oder in einem ganz gewöhnlichen Haus
mit Herrschaften, die bedient werden wollten, und einem exzentrischen
Hausherrn, den nie jemand zu Gesicht bekam.
    »Sallie«, rief sie jemand an,
und sie schrak aus ihren Gedanken. Imer war es, der auf sie zueilte. »Gut, dass
ich dich hier treffe«, sagte er. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich brauche
Verbandszeug, aber in der Küche ist kein Fetzchen mehr zu finden.« Er lachte.
»Wahrscheinlich haben wir das alles für dich aufgebraucht, Unglücksvögelchen.«
    Sallie lächelte zurück. Imer
sah erschöpft aus, die Vorbereitungen für das Jahresfest strapazierten die Küche
immer aufs Äußerste.
    »Verbandszeug«, sagte sie.
»Aber natürlich, ich hole es dir.« Trotz ihrer Müdigkeit machte sie kehrt und
lief zur Apotheke zurück.
    Die Tür war abgeschlossen, das
hatte sie noch nie zuvor erlebt. Sallie klopfte eine Weile dagegen, dann gab
sie auf. Meister Korben war ganz offensichtlich nicht da. Was sollte sie jetzt
tun? Sie wusste, wo er das Verbandszeug aufbewahrte, und könnte es sich selbst
nehmen, aber dazu müsste der Apotheker ihr die Tür aufschließen.
    Wo waren seine Räume? Sie
hatte keine Ahnung. »Ach, es ist doch zum Weinen«, sagte sie wütend, machte auf
dem Absatz kehrt und suchte das nächste Wolfskopf Zeichen, das irgendwo im Gang
zwischen der Apotheke und der Bibliothek sein musste.
    Sie fand es über einer großen
Bodenvase, in der drei trockene Graswedel verstaubten. Sallie legte ihre Hand
auf das

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