Der Nebelkönig (German Edition)
Ohren
zersprangen. Er bedeckte fast die ganze riesige Tür. Sallie sah in seine gelb
funkelnden, bösen Augen und schauderte. Die gebleckten Zähne waren beinahe
armlang, und in seinem schaumbedeckten Maul bewegte sich eine riesige Zunge,
rollte sich aus, streckte sich zu ihr hin. Sallie sprang zurück und prallte
gegen den Apotheker, der immer noch wie eine seltsame Statue mit erhobenem,
ausgestrecktem Arm gebannt an der Stelle stand.
»Wie komme ich nun hinein?«,
schrie Sallie gegen den Lärm, den der heulende Wolfskopf machte.
Du musst dich vom Wolf verschlingen lassen , hörte sie
geisterhaft in ihrem Inneren. Redzep hatte das zu ihr gesagt, aber sie hatte
nicht geahnt, was er damit gemeint haben könnte. Jetzt stand sie vor dem
riesenhaften Kopf und zitterte am ganzen Leib. Sie sollte sich fressen lassen?
Von diesem Monstrum?
Sallie wich langsam zurück,
tastete sich Schrittchen für Schrittchen rückwärts den Korridor entlang. Sie
wandte ihren Blick nicht von der Tür mit dem vor Wut rasenden Wolfskopf. Nein,
sie konnte es nicht. Sie konnte sich nicht selbst dem Wolf zum Fraß vorwerfen.
Wem sollte das nützen?
Der erstarrt dastehende
Apotheker schien sie mit grimmiger Miene zu fixieren. Sein Stock deutete genau
auf sie, und der Drachenkopf an seinem Ende starrte sie an. Er bewegte sich
nicht, und sie begann zu glauben, dass sie sich die ermunternden Worte und die
tiefe, glockenähnliche Stimme des Drachen nur eingebildet hatte.
Sallie sank in die Knie und
legte die Hände auf den kalten Steinboden. Der Nebel schlug über ihrem Kopf
zusammen. Ihr Atem ging schnell und schluchzend. »Ich kann es nicht tun«, sagte
sie.
Der Nebel umfing sie wie eine
weiche, tröstliche Umarmung. Er streichelte über ihr Haar, liebkoste ihre
Wangen, legte sich sanft um ihre Glieder. Sallies Augen fielen zu. Sie war so
müde, und der Nebel war so warm und mollig weich wie die allerdickste flaumige
Bettdecke. Sie rollte sich auf dem Boden zusammen. Warum sollte sie nicht ein
wenig schlafen? Der Wolf lief ihr nicht davon. Alles sieht freundlicher aus,
wenn man ein wenig geschlafen hat. Nur ein paar Minuten. Nur ein kurzes
Nickerchen ...
Jemand zwickte sie fest und
schmerzhaft in den Arm. Sallie keuchte und sprang auf. Sie sah, wie ein kleines,
langschwänziges Tier davonhuschte und im Nebel verschwand. »Was war das?«, fragte
sie sich benommen und rieb ihren Arm. Dann vergaß sie das Tierchen und rieb
sich kräftig über das Gesicht, um die Schläfrigkeit zu vertreiben. Sie sah den
Nebel, der den Korridor von Wand zu Wand, vom Boden beinahe bis zur Decke
erfüllte. Dann holte sie tief und bebend Luft und ging zurück zur
Bibliothekstür, die durch den Nebel nur noch schemenhaft zu erkennen war. Der
Apotheker war verschwunden, aber der Wolf an der Tür starrte sie hämisch an. Er
riss das Maul auf und drohte ihr knurrend mit seinen scharfen Reißzähnen.
Sallie hielt inne und fühlte,
wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. Sie nahm all ihren Mut zusammen,
befahl ihren weichen Knien, sie weiter zu tragen, und sprang mit ausgestreckten
Armen und Kopf voran in das weit geöffnete Maul des Wolfes.
Seine Zähne zerrissen ihre
Kleider und ihre Haut. Sallie spürte, wie das Fleisch von den Knochen gefetzt
wurde, und ihre Knochen brachen wie dürre Zweige. Der Wolf packte sie, zerfetzte
jedes Stückchen, fraß ihr Fleisch, trank ihr Blut und kaute ihre Knochen. Und
während der Tortur war Sallie vollkommen bei Bewusstsein, sie erduldete das
Zerfetzen, Zerreißen und Zerkauen, erlitt die Schmerzen und spürte endlich, wie
das, was von ihr noch übrig war, hinuntergeschluckt wurde in das finstere
Innere des riesenhaften Wolfes.
»Schläfst du mir hier etwa
ein, junge Dame?« Eine Hand schüttelte sie nicht allzu sanft und ein Augenpaar
musterte sie durch einen matt blinkenden Zwicker.
»Uh... Uhl«, stammelte Sallie
und richtete sich hastig auf. Ihr Kopf hatte auf ihren verschränkten Armen und
die hatten wiederum auf einem aufgeschlagenen Buch geruht, wie sie verwirrt feststellte.
Von der Buchseite starrte sie die Illustration eines bösartig grinsenden
Wolfskopfes an.
»Ja, Uhl«, bestätigte der
Bibliothekar und setzte sich wieder in seinen Sessel. Er zupfte seinen dunklen
Rock zurecht und faltete die Hände vor dem Bauch. »Also, mein Kind, fasse mir
in wenigen Worten deine derzeitige Lektüre zusammen. Sie scheint ja eine
einschläfernde Wirkung auf dich zu haben.« Er sah sie streng über den Rand
seines Zwickers
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