Der Nebelkönig (German Edition)
Darunter fanden sich abgeschürfte Haut und Abdrücke wie von großen,
scharfen Zähnen, die sich an einigen Stellen durch die Haut in ihr Fleisch
gebohrt hatten, aber nichts wirklich Schlimmes. Ihr linkes Handgelenk wurde immer
noch von einer breiten, festen Eisenmanschette umschlossen. Sallie seufzte und
legte das Gesicht in die Hände.
»Warum?«, fragte sie sich. »Er
ist ganz offensichtlich vollkommen verrückt und außer sich, aber warum denkt
er, dass ich etwas mit seiner Gefangenschaft zu tun habe?«
»Weil du Sarah heißt«,
antwortete die heisere Krächz stimme des Raben. Der große Vogel hüpfte hinkend
näher. »Ist er weg?«
Sallie lächelte über die
Furcht in der Stimme des Vogels. »Ich glaube, ja. Was hast du gefunden, Rabe,
lieber Rabe?«
Er hackte nach der Kette, die
an ihrem Handgelenk hing. »Das führt nirgendwo hin. Und es ist nirgendwo
befestigt.«
Sallie runzelte die Stirn.
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Das ergibt keinen Sinn«,
bestätigte er. »Hör zu, Sallie. Du musst als Erstes den Weg aus dem Nebel finden.
Die Kette ist unwichtig.« Er warf einen Seitenblick auf das Blut, das rot und
frisch unter der Fessel hervorsickerte. »Unwichtig!«, wiederholte er
bekräftigend.
Sallie stand auf und griff
nach der Kette. »Wohin?«, fragte sie. »Ich laufe schon so lange immer in diese
Richtung. Wenn der Nebel irgendwo ein Ende hätte, hätte ich es doch längst gefunden.«
»Vielleicht solltest du die
Richtung wechseln?«, schlug der Rabe vor.
Sallie drehte sich um, aber
die Kette hielt sie fest. Auch nach rechts oder links konnte sie jeweils nur
ein paar Schritte machen, bevor der unerbittliche Zug an ihrer Fessel sie vor
Schmerz auf die Zunge beißen ließ. »Es geht nicht, Rabe«, sagte sie entmutigt.
»Hast du keinen anderen Rat für mich?«
Er schüttelte missbilligend
den Kopf. »Ich habe doch gesagt, die Kette ist unwichtig. Wenn du aber darauf
bestehst, wird sie dich hier festhalten, bis es zu spät ist.«
Irgendwo im Nebel heulte der
Wolf. Sallie lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
»Er kommt zurück.« Der Rabe
schlug mit den Flügeln. »Und dieses Mal kommt er, um zu töten. Beeile dich,
Sallie, uns bleibt keine Zeit mehr!«
»Aber was kann ich denn tun?«,
schrie sie und zerrte an dem unbarmherzigen Eisen. »Rabe, hilf mir doch!«
Der Vogel gab einen hoffnungslosen
Laut von sich und flog auf. »Ich kann nicht bleiben«, rief er und verschwand im
Nebel. »Es tut mir so leid, Sallie!«
Stille. Sie hörte auf, an
ihrer Fessel zu zerren, und legte die zitternden Hände ineinander. »Denk nach«,
befahl sie sich. Eine der Fesseln war verschwunden, als Sallie erkannt hatte,
dass nicht sie, das Küchenmädchen, damit gebunden war. Aber die zweite Kette
war immer noch da. Wofür stand die? Für welchen Irrtum, für welche falsche
Annahme war sie nun unwiderruflich hier an den Platz gebannt und erwartete
ihren Tod?
Sie griff Hilfe suchend in
ihre Schürzentasche und befühlte die Dinge, die sie darin mit sich trug. Das
Messer, so lächerlich unnütz es auch war, stellte ihre einzige Waffe gegen die
Zähne des Wolfes dar. Sie wollte es in der Hand haben, wenn er kam.
Ihre Finger schlossen sich um
etwas Rundes, unregelmäßig Geformtes, und sie wusste einen Moment lang nicht,
was es war. Sie zog ihre Hand aus der Tasche und betrachtete den Gegenstand.
Perlmuttglänzend, sanft gewölbt und glatt – ihr Spiegel! Sallie lachte
unwillkürlich auf. »Dann gehe ich zumindest gekämmt in den Tod«, sagte sie. »Wo
ist mein Kamm?« Sie hob den Spiegel vors Gesicht.
»Oh«, machte sie verblüfft.
»Oh, aber das ...«
Was auch immer sie sagen
wollte, blieb unausgesprochen, denn jetzt kam der Wolf. Sallie ließ den Spiegel
nicht los, sie drehte sich um ihre Achse, um den grauen Schatten im Blick zu
behalten, der sie lautlos umkreiste. Seine Gestalt verschwamm mit dem Nebel,
dann tauchte sie wieder auf, kam näher, verschwand wieder, tauchte an einer
anderen Stelle auf, erneut einen Schritt näher als vorher. Sallie spürte, wie
ihr der Schweiß über den Rücken lief. Ihre Gedanken sprangen durcheinander wie
eine Lawine kleiner Steine, die einen Abhang hinunterhüpften.
Das Gesicht im Spiegel. Ihr
Gesicht und nicht ihr Gesicht. Sie kannte es, wie man etwas aus einem Traum
kennt.
Wieder einen Schritt näher –
die Kreise wurden enger, die er um sie zog.
Das Gesicht hatte sie schon
einmal in einem Spiegel erblickt – aber wo und wann?
Noch näher. Sie hörte seinen
Atem.
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