Der Nebelkönig (German Edition)
war es nicht der Rabe,
wie sie feststellen musste, als sie herumfuhr und in die böse funkelnden Augen
des Grauen Herrn blickte.
Sallie wollte ihm ausweichen,
aber die Kette an der rechten Hand bannte sie immer noch an ihren Platz. Der
Graue Herr griff danach und rüttelte daran. »Sehr haltbar«, sagte er spöttisch.
»Und so kleidsam für eine junge Dame wie dich. Kein Gold für ein Küchenmädchen,
o nein. Eisen, gutes, solides Eisen, nüchtern und bescheiden.«
Sallie schluckte ihre Wut
hinunter. Er wollte sie reizen, damit sie etwas Unbedachtes tat. Aber sie
musste herausfinden, wie sie auch die zweite Fessel loswerden konnte, und dafür
brauchte sie ein ruhiges Gemüt. Sie zwang sich, den Nebelkönig zu ignorieren.
Denk nach, Sallie, spornte sie sich an. Was hält dich gefangen?
Der Graue Herr ließ die Kette
los und hob die Hand, um ihr eine nicht allzu sanfte Ohrfeige zu geben. »Du
wirst mir nicht mit Missachtung begegnen, Küchenmädchen!«, sagte er scharf.
Es war bei Weitem nicht das
erste Mal, dass sie so eine Züchtigung einstecken musste. Die Köche, allen
voran der jähzornige Leka, hatten alle ein lockeres Handgelenk, was ihre Hilfskräfte
betraf. Dennoch knirschte Sallie mit den Zähnen, denn diese Ohrfeige kam
unvermutet, und die Demütigung schmerzte stärker als der eigentliche Schlag.
»Was willst du von mir?«,
fragte sie und ihre Stimme zitterte – nicht vor Angst, sondern vor Zorn.
»Falsch, mein Kind«, erwiderte
der Graue Herr. »Was willst du von mir? Ich führe hier ein ruhiges, beschauliches
Leben. Vielleicht ein wenig zu beschaulich für meinen Geschmack. Aber dies hier
ist mein Reich, hier herrsche ich. Du bist gekommen, um mich daraus zu
vertreiben.« Er beugte sich näher zu ihr und seine Augen funkelten gefährlich.
»Du hast mir schon einmal alles genommen, was ich hatte«, zischte er. »Warum
gönnst du mir noch nicht einmal mehr den armseligen, lächerlichen Rest?«
Speichel sprühte auf Sallies Gesicht, aber sie wischte ihn nicht weg und wich
auch nicht zurück. Furchtlos erwiderte sie den Blick des Nebelkönigs.
»Ich weiß nicht, wovon du
redest. Ich bin hier, weil ich ...«, sie stockte. Genau genommen hatte er recht
– sie war hier, um einem auf alle Ewigkeit Gefangenen auch noch sein Leben zu
nehmen. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie das überhaupt anstellen sollte, und
der Gedanke daran ihr jetzt, Auge in Auge mit dem Nebelkönig, mehr als
lächerlich und abwegig erschien.
Er schien ihre Gedanken zu
lesen, denn ein kaltes Lächeln verzog seine Mundwinkel. »Ja?«, lockte er.
»Warum bist du hier in meinem lauschigen kleinen Kerker?« Er richtete sich auf
und wies mit ausgebreiteten Händen nach rechts und links. »Hier lebe ich so
lange schon, dass ich beinahe alles vergessen habe, was vor dieser Zeit liegt.
Meine Kindheit? Zu Staub und Asche zerfallen. Hatte ich Eltern? Nun, aus irgendeinem
Leib muss ich ja gekrochen sein. Wer waren meine Lehrer, meine Freunde? Tot und
vergessen, begraben und von Würmern gefressen.« Er ballte die Hände zu Fäusten.
»Woran ich mich allerdings erinnere, meine Liebe, das ist jede quälende Minute
in diesem Loch, in das du mich gesteckt hast, damit ich bei lebendigem Leib
verrotte, eingesperrt mit all diesen Phantomen, die nicht einmal den Anstand
besitzen, zu sterben, wenn man sie tötet! Ich habe einige vergnügliche
Jahrhunderte damit verbracht, mich durch den Boden zu wühlen wie ein geisteskranker
Maulwurf. Irgendwann, irgendwo musste doch das Licht der Sonne sein, der Wind,
der weite Himmel, andere Menschen, nach deren Gesellschaft ich mich verzehrt
habe wie ein Verdurstender nach einem kühlen Schluck Wasser.«
Er stieß einen Schrei aus, in
dem jahrhundertealte Wut und Enttäuschung sich Luft machten. »Weißt du, was ich
da unten gefunden habe? Dreck! Nichts als Dreck!«
Er hob die Faust, als wollte
er Sallie damit schlagen. Sie wich nicht zurück, sondern sah ihn weiter an. »Du
hast Redzeps Volk getötet, und sie besaßen sehr wohl den Anstand, zu sterben«,
stellte sie ohne Vorwurf fest.
Er spuckte aus. »Wen
interessiert schon das kleine Ungeziefer? Ich bin jahrelang nicht nach oben
gegangen. Von irgendetwas musste ich mich schließlich ernähren.«
Er wandte sich ab. Sallie sah
ihm nach, bis seine Gestalt im Nebel verschwunden war, dann gab sie ihrer
Erschöpfung endlich nach und ließ sich in die Hocke sinken. Sie begutachtete
ihr freies Handgelenk und tupfte mit der Schürze das bereits trocknende Blut
ab.
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