Der Nebelkönig (German Edition)
Gelegentlich traf sie ein Blick aus gelben Augen, in denen rötliche
Funken aus Wahnsinn und Mordlust tanzten.
Es war das Gesicht einer
jungen Frau, nicht das eines Mädchens. Eine junge Frau, die sie kannte?
Sie roch die scharfen
Ausdünstungen des wilden Tiers. Aas, Blut, Fleisch, Gewalt, Mord. Der Kreis
wurde enger, Sallie musste sich schneller drehen, um ihn im Auge zu behalten.
»Sarah!«, schrie Sallie, als
ihr einfiel, woher sie das Gesicht kannte. »Katzenkönigin, hilf mir!«
»Ich bin hier«, antwortete die
Katzenkönigin durch Sallies Mund, mit Sallies Stimme. »Jetzt bin ich endlich
hier, im Herzen des Bösen.«
Sallie spürte, wie sich die
Fessel von ihrer Hand löste und verschwand. Der Wolf setzte zum Sprung an, und
während er sprang, begann sich der Nebel zu lichten.
Sie hob in einem Reflex die
Hand mit dem Spiegel. Ein Lichtstrahl traf auf den Wolf, der im Sprung erstarrte.
Wie ein Vogel im Flug blieb er in der Luft hängen, das Abbild einer reißenden
Bestie, die mit dem Nebel blasser wurde und verschwand.
Sallie stieß den angehaltenen
Atem aus. Der kurze Augenblick, in dem sie verstand und in dem alles klar und
deutlich und so unglaublich einfach vor ihren Augen gestanden hatte, war
verflogen.
Sie sah sich um. Es war der
Turm, wo sonst sollte sie auch sein? Wände, die hoch über ihrem Kopf eine Decke
aus schwarzen Balken trugen. Durch schmale, hohe Fenster fiel graues Licht auf
den grauen Steinboden. Es war kalt.
Sallie blieb einen Moment lang
stehen und dachte nach. Alles schien darauf hinauszulaufen, dass sie den Wolf
zur Strecke bringen musste, um sich selbst und ihre Freunde aus dem Kerker zu
befreien und die Welt draußen davor zu bewahren, erneut in Blut, Gewalt und
Zerstörung zu versinken.
Das klang logisch und vernünftig,
aber dennoch sträubte sich alles in ihr dagegen. Der Wolf war vollkommen
irrsinnig. Das Leben oder Leiden anderer Geschöpfe schienen ihn nicht mehr zu
interessieren, als das Leben und Leiden einer Stubenfliege die Spinne in ihrem
Netz interessiert. Aber sie, Sallie, war weder Wolf noch Spinne und wollte es
auch nicht sein. Die kalte Unbarmherzigkeit, mit der die Katzenkönigin ihren
Widersacher und ehemaligen Gefährten in diese ewig währende Verbannung
geschickt hatte, stieß sie zutiefst ab.
»Sarah?«, rief sie leise.
»Bist du noch da?«
Etwas tief Vergrabenes rührte
sich in ihrem Bewusstsein. »Sallie, mein Kind?«, antwortete die Katzenkönigin.
Es klang belustigt.
»Sarah, ich kann es nicht tun.
Er tut mir leid.«
Die Katzenkönigin schwieg. »Du
kennst ihn nicht«, erwiderte sie nach einer Weile. »Wenn er die Gelegenheit
dazu bekommt, wird er wieder versuchen, sich zum Herrn über die Welt aufzuschwingen.
Er wird lügen und intrigieren, morden und alles zerstören, was heil und schön
und gut und sanft ist.«
»Er ist beinahe verrückt vor
Einsamkeit«, wandte Sallie ein.
Die Katzenkönigin lachte
leise. »Nein, mein Kind. Er ist vollkommen irrsinnig. Das war er wahrscheinlich
schon immer, aber wir haben es zu spät bemerkt.«
Sallie reckte störrisch das
Kinn. »Er war dein Liebster.«
Wieder schwieg die
Katzenkönigin lange. Als sie dann antwortete, klang sie nachdenklich und
traurig: »Nein, Sallie, das war er nie. Es gab eine Zeit, da haben wir
geglaubt, wir wären Freunde und vielleicht würde mehr daraus ... nun, es ist
vorbei. Mein Liebster, mein engster Freund, mein Gefährte auf Leben und Tod –
das war ein anderer. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
»Was soll ich also tun, was
rätst du mir?«
»Töte ihn.«
Sallie schluckte, ein dicker
Kloß verengte ihr den Hals. So kalt, so endgültig, so unbarmherzig war dieser
Befehl erklungen, dass es sie schüttelte. »Und wenn ich es nicht kann?«
»Dann werden wir alle sterben
und die Welt wird in Flammen aufgehen.«
»Ich kann es nicht tun«, sagte
Sallie leise. Die Königin antwortete nicht.
Sallie stand in Gedanken
versunken da und betrachtete geistesabwesend das Muster, das die Fliesen des
Bodens bildeten. Schwarz und grau, mit hellen Sprenkeln irgendeines Tierkots
lag das Wolfskopf Zeichen vor ihr. Sie stand so, dass sie direkt in sein
grinsend geöffnetes Maul blickte.
Sallie wandte sich heftig ab
und musterte den hallenähnlichen Raum. Er war weitläufig und vollkommen rund,
und in die Mauern um sie waren die schmalen Fenster eingelassen, die ihr zu
Beginn aufgefallen waren und durch die jetzt ein kalter Luftzug wehte. Es gab
keine Türen oder Öffnungen,
Weitere Kostenlose Bücher