Der Neid eines Fremden
Körpersprache, wie Sie so grob sagen, benutzen sie nicht nur, um ihre wahren Gefühle darzustellen, sondern auch, um die anderen Menschen zu täuschen.«
»Lesen alle Vögel gegenseitig ihre Signale?«
Eine lange Denkpause. Dann sagte er betrübt, als habe diese Entdeckung ihn einen Teil seines Lebens gekostet: »Ich fürchte, nein. Wissen Sie, das ist auch nicht nötig. Aber es ist eine schöne Vorstellung, nicht wahr? Nein. Ein Vogel kann nur die Fußspuren seiner eigenen Artgenossen lesen. Jedes weitere Wissen wäre überflüssig, und wie wir wissen, verabscheut unser Schöpfer jegliche Verschwendung.«
Das ist Meinungssache, dachte Rosa, als die Kontrollampe aufleuchtete. Sie betätigte den Schalter.
Louise meinte: »Noch einen Anruf.«
»Die Sendung ist gleich zu Ende.«
»Er sagt, er wolle sich kurzhalten.«
»Das wird er wohl müssen. In Ordnung - stell' das Gespräch durch.«
Rosa bedankte sich beim Vogelmann und blendete ihn aus. Sie nahm den letzten Anrufer auf ihre Leitung. Eine sanfte, höfliche Stimme. Fast zu höflich. Farblos, aber voll scheuer Beharrlichkeit. So viele Hörer hatten eine ähnliche Stimme. Die Tatsache, daß sie nichts Originelles oder nur wenig Interessantes zu sagen hatten, hielt sie allerdings nicht davon ab, sich in die Sendung einzuschalten. Sie belästigten die Telefonmädchen solange mit Anrufen, bis diese sie durchstellten, boten ihre Feld-Wald-und-Wiesen-Vorurteile und fadenscheinigen Cli-ches dann mit einer Überzeugungskraft dar, die Rosa die ersten Male als rührend empfunden hatte.
»Die Leitung ist jetzt frei.«
»Es geht... um einen Todesfall.«
Rosa gelang es gerade noch, ein gereiztes »Tsk« zurückzuhalten. Erst vor einigen Wochen hatte sie eine Sendung über Trauerfälle gemacht; wieso hatte er da nicht anrufen können? Sein Satz rief eine Pawlowsche Reaktion hervor: Informationen über verschiedene Hilfsorganisationen schicken, vielleicht die Samariter vorschlagen, die üblichen Fragen stellen. Entsetzt wurde sie sich plötzlich ihrer Kategorisierungen bewußt. Wo war ihr Mitleid geblieben?
»Das tut mir leid. War es jemand, der Ihnen nahegestanden hat?«
»Nein. Nichts Persönliches.«
Eine merkwürdige Stimme. Nicht natürlich. Die Worte waren ein wenig zu vorsichtig gesetzt, und sie hörte einen Londoner Akzent heraus, von dem sie vermutete, daß er gewöhnlich sehr viel stärker war. Eine künstliche Stimme also, aber sie würde nie erfahren, ob er sie nur für den Anruf angenommen hatte, oder ob sie ihm zur zweiten Natur geworden war. Zudem kam sie ihr bekannt vor.
»Ich verstehe nicht ganz. Geht es um einen Zeitungsartikel, der Sie erschüttert hat? Um einen Mordbericht? Um einen Vorfall in Nordirland?«
»Oh, ich bin ganz und gar nicht erschüttert.« Jetzt konnte sie das Lachen hören, das hinter seinen Worten lag, hervorzubrechen und sie zu zerstören drohte.
Sie fragte schroff: »Warum rufen Sie dann überhaupt hier an?«
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Duffy, der im Kontrollraum wartete, sich neben Louise stellte. Sie spürte, daß beide sie ansahen.
»Ich hab' mir nur gedacht... da der Tod noch nicht eingetreten ist... sollte ich es jemandem erzählen.«
Rosa seufzte. Das war bestimmt nicht ihr bester Tag. Sie hatte kaum ihr zweites Frühstück verdaut und schon etliche unsinnige Anrufe erhalten.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine Art Hellseher sind?«
»Hab' ich das etwa gesagt?«
»Bis jetzt haben Sie so gut wie nichts gesagt.« Rosa wußte, wie gereizt sie klang. Ja - offensichtlich hatte sie es satt. Wenn sie so schnell die Geduld verlor, wurde es Zeit, vom Karussell abzuspringen. »Und jetzt bleiben Ihnen weniger als fünfzig Sekunden, um loszuwerden, was Ihnen auf dem Herzen liegt.«
»Sehen Sie, ich muß jemanden umbringen. Das ist alles, was ich Sie wissen lassen wollte.«
Rosa setzte sich auf. Ihre Ungeduld war verflogen. »Wie bitte?«
Louise hatte sich erhoben und stand vorgebeugt mit den Händen auf der Kontrolltafel. Duffy, der direkt hinter ihr stand, rührte sich nicht, hatte seinen Blick aber mit der Aufmerksamkeit eines Apportier-hundes auf Rosa gerichtet. Ein Gefühl von angespannter Aufmerksamkeit schien die drei zusammenzuschweißen. Rosa bedeutete Louise wortlos, ihn am Apparat zu halten.
»... da Sie davon betroffen sind ...«
Louise unterbrach die Studioleitung und zeigte Rosa mit dem
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