Der Neid eines Fremden
Daumen an, daß sie ihn noch am Apparat hatte. Der große Zeiger sprang auf zwölf Uhr, und Rosa begann, sich von ihren Hörern zu verabschieden, wußte aber, daß sie Unsinn redete. Mit dem Nachrichtentext in der Hand verließ Duffy den Kontrollraum.
»... das war's für heute von Rosas Karussell... bis Freitag ... falls ich dann noch lebe ... Tschüß, sagt Ihre ...«
Louise ließ den Musikabspann laufen. Rosa nahm ihre Kopfhörer ab und gab sie an Duffy weiter, der sich jetzt in ihren Sessel gleiten ließ und fragte: »Was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Was sollte sie tun? Ohne Eile ging sie auf den Kontrollraum zu. Die Aufregung ließ schnell nach. Sie war allein durch die Erstmaligkeit des Vorfalls hervorgerufen worden, wie sie jetzt erkannte. Das Team, das in der Telefonzentrale die Anrufe entgegennahm, hatte bislang die Verrückten und die komischen Käuze herausgefiltert, und sie (mit Ausnahme des Vogelmanns) nicht in die Studioleitung gelassen.
Louise hielt ihr den Hörer entgegen, wobei sie sich bedeutsam an die Stirn tippte. Rosa zögerte. Ihre Abneigung gegen die Fortsetzung des Gesprächs war rein instinktiv. Sie lag in dem natürlichen menschlichen Impuls begründet, sich von jeglicher Deformation abzuwenden; war dem Wunsch verpflichtet, Gedanken- und Verhaltensmuster, die sich auf so vollkommen unverständliche Weise von den eigenen unterschieden, nicht anzuerkennen. Aus Vernunftsgründen würde sie das Gespräch doch fortsetzen. In den letzten zwei Jahren war sie gut dafür bezahlt worden, sich als eine aufmerksame Gesprächspartnerin mit einem offenen Ohr für die Sorgen ihre Mitmenschen zu präsentieren. Und diese Grundvoraussetzung hatte sie nie in Frage gestellt. Trotz der unvermeidlichen Unannehmlichkeiten mit einigen ihrer Hörer hatte sie nie das Gefühl gehabt, das Geld zu Unrecht angenommen zu haben.
Aber war sie je darum gebeten worden, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen? Es lag in ihren Händen, wie lang die Anrufe waren, denn sobald sie genug hatte, blendete sie die Leute aus. Konnte man das als einfühlsam bezeichnen? Jetzt bot sich die Gelegenheit, einem anderen Menschen tatsächlich zu helfen. Statt einfach die vorgedruckten Antwortbriefe auf die Post zu bringen oder weiterführende Adressen zu nennen, könnte sie ihm eine Weile zuhören und versuchen, ihn zu verstehen.
Doch ihre instinktive Abneigung ließ sich nicht unterdrücken. Als sie den Hörer entgegennahm, zitterte sie am ganzen Körper, überkam sie ein ungutes Gefühl.
»Hallo? Sind Sie noch am Apparat?«
»Oh, ja.« Seine Stimme war wie Samt. Als fließe durch die Leitung Öl in ihr Ohr. Sie wußte, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Indem sie das Gespräch mit ihm fortsetzte, ihn ernstnahm, regte sie ihn zu weiteren Fantasien an. Wäre es ein obszöner Anruf gewesen, hätte sie nicht mit ihm gesprochen. Und was konnte obszöner sein als der Gedanke, einem anderen Menschen absichtlich das Leben nehmen zu wollen?
»Ich würde Ihnen gern behilflich sein ... wenn ich das überhaupt kann.«
»Oh, das können Sie.«
Er lachte. Es war ein schreckliches Lachen. Unschuldig und fröhlich wie das eines Kindes. Louise, die sie beobachtet hatte, stand auf und deutete an, ihr den Hörer aus der Hand zu nehmen, doch Rosa winkte ab. Sie spürte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete und Duffy in den Raum trat. Sie sagte:
»Und wie? Würde es Ihnen helfen, ein bißchen darüber zu reden?«
»Ich wüßte nicht, warum wir uns nicht ein bißchen unterhalten sollten. Fürs erste.«
Rosa schnürte sich die Kehle zusammen. »Was meinen Sie damit ... fürs erste?«
Duffy sprang vor und nahm ihr den Hörer aus der Hand, bevor sie ihn abhalten konnte. »Hören Sie. Es gibt Spezialisten, die Leuten wie Ihnen weiterhelfen können. Geben Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse, und wir werden Sie an jemanden weiterleiten.« Alle hörten das Klicken, als die Leitung unterbrochen wurde. »Vielen Dank für Ihren Anruf.«
»Das hättest du nicht tun sollen, Duffy.«
»Sieh dich doch an. Weiß wie die Wand. Ich kann nicht einfach dastehen und zusehen, wie du dir diesen ganzen Unsinn anhörst.«
»Vielleicht hätte ich ihm helfen können.«
»Unsinn - er ist ein Spinner. Wenn er tatsächlich Hilfe wollte, würde er zu einem Arzt gehen. Sich nicht hier melden, um dich zu quälen. Wie zum Teufel ist er überhaupt durchgekommen?«
Louise
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