Der Neid eines Fremden
seiner Zeitung. Tränenüberströmt wandte Kathy sich an ihre Mutter. Rosa nahm ihre Hand.
»Er hat recht, mein Liebling, aber es wird anders sein, als du dir vorstellst. Du wirst dann so erwachsen sein, daß du ganz anders mit ihm umgehen kannst. Es wird dir nichts ausmachen. Ehrlich.«
»Versprichst du mir das?«
»Ich versprech's dir.«
»Neulich hat Guy gesagt, er wird zwölf bleiben, bis ich ihn eingeholt habe.«
»Das war nicht besonders nett von ihm.« Sie sah zu ihrem Sohn hinüber. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen.«
»Frech und dumm.« Kathy wischte sich die Tränen vom Gesicht und strahlte alle an.
»Ich hab' nicht den ganzen Tag Zeit, mir das Gewäsch von dummen Weibern anzuhören.« Guy schob seinen Stuhl zurück. »Kann ich Madgewick den Rest von meinem Hühnchen geben?«
Rosa sagte: »Es sind nur noch Knochen übrig, und du weißt, daß er die nicht anrührt.«
»Sie werden ihm im Hals stecken bleiben, und er wird sterben. Daddy - Guy versucht gerade, Madgewick umzubringen.«
»Holt eure Sachen, Kinder.« Leo faltete seine Zeitung zusammen und lächelte Rosa an. »Guten Morgen, mein Schatz.«
»Guten Morgen, Leo.«
Vor einer halben Stunde waren sie sich kurz mit verschlafenen Gesichtern im Badezimmer begegnet, doch jetzt, nach einigen Tassen starken kolumbianischen Kaffees und ein paar Leitartikeln fühlten sie sich frisch und bereit, den Alltag anzugehen. Leo kam auf das Gespräch der vergangenen Nacht zurück.
»Bist du dir sicher, daß du in diesem Haus das Unterste zuoberst kehren und es mit Leitern, Farbeimern, Tapeten und Männern in weißen Overalls vollstellen willst, die uns den letzten Tropfen Alkohol wegtrinken werden? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«
»Sei nicht albern, Leo. Es geht nur um mein Arbeitszimmer.«
»Aber dein Arbeitszimmer ist wunderschön. Es hat dir immer gefallen.«
»Na ja, jetzt gefällt's mir eben nicht mehr. Es wirkt so bedrückend.«
Tatsächlich war es ihr weniger schlimm vorgekommen, als sie heute morgen auf einen Sprung hineingeschaut hatte, um ihre Tasche zu holen, aber es widerstrebte ihr, sich von der sprühenden Verwandlungsszene zu lösen, die am Vortag ihren Stimmungswechsel herbeigeführt hatte, obwohl sie das Gefühl der Angst, das ihre schlechte Laune ausgelöst hatte, nur noch schlecht nachempfinden konnte.
»Es kann nicht schaden, sich ein paar Musterstoffe und Tapetenbücher zu besorgen. Wer weiß, ob ich etwas damit anfangen kann?«
»Hoffentlich nicht.« Leo mochte es, wenn alles seinen geregelten Lauf nahm. »Eigentlich paßt es nicht zu dir, launisch zu sein, Rosa.«
Rosa schwieg. In ein paar Minuten würden sie sich trennen, um zur Arbeit zu gehen, und es hatte keinen Zweck, jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen, aber dennoch ... »launisch« ... Das Wort charakterisierte die Art von Frauen, die sie am wenigsten mochte: sie gurrten oder schmollten, verlangten kleine Überraschungen und Aufmerksamkeiten. Es waren Frauen, die glaubten, ein Tag auf der Sonnenbank oder beim Friseur sei ein sinnvoller Tag gewesen.
Leo zog seinen dicken Mantel an und setzte seine echte russische Pelzkappe auf. Als er letztes Jahr in Moskau auf einem Ärztekongreß gewesen war, hatte er Rosa einen sibirischen Wolfspelz und den Kindern Fellmützen mitgebracht. Seine Kappe war aus schwarzem Persianer, und als Rosa einen kurzen Blick auf sein Profil warf, das scharf und bedrohlich wie das eines Habichts war, machte ihr Herz einen Sprung.
Die Kinder waren eingemummelt wie Eskimos. Leo öffnete die Haustür, trat mit ihnen in den peitschenden Hagelsturm hinaus, dann waren sie verschwunden. Rosa fütterte Madgewick, ohne daran zu denken, daß sie das bereits beim Zubereiten des Frühstückstees getan hatte. Er erinnerte sie nicht daran, sondern stopfte das Futter mit einem einnehmenden Blick über den Rand des Freßnapfes in sich hinein.
Sie überprüfte den Inhalt ihrer Tasche und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. heute hieß das Thema ihrer Sendung »Kommunikation«. In einigen Tagen würde Rosas Karussell bereits zwei Jahre alt sein. Früher hatte sie sich wahrhaftig nicht vorstellen können, mit dreiunddreißig Jahren beim Rundfunk zu arbeiten. Eines Tages war sie gebeten worden, Hintergrundmaterial für eine einstündige Abendsendung über die großen Londoner Streiks des neunzehnten Jahrhunderts zusammenzustellen. Sie hatte
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