Der neue Frühling
entziffern kann. Thaggoran hatte gesagt, das Amulett stamme aus der Großen Welt. Und seit Thaggorans Tod hat Hresh es fast immer getragen.
Und er faßt den Talisman jetzt an, streichelt die vom Tragen glattpolierte Oberfläche. Das Ding besaß selbst nicht wirklich irgendeine zauberische Macht, jedenfalls hatte er sie nie spüren können. Aber es hatte Thaggoran gehört; und in der Zeit, da Hresh ihn als Chronist ablöste, berührte er dieses Amulett oft, in der Hoffnung, daß Thaggorans Weisheit auf ihn selber herabkommen möge. Vielleicht ist dies ja so.
»Thaggoran?« sagt er und schaut in das Dämmerdunkel des Zimmers hoch oben im Hause des Wissens. »Kannst du mich jetzt dort hören, wo immer du sein magst? Ich bin’s, Hresh.«
Stille. Eine so tiefe Stille, daß sie zu dröhnen scheint. Und sie vertieft sich noch weiter, wird stiller als still: nicht nur, daß jeder Laut verstummt ist, nein, es fehlt sogar die Voraussetzung für jedes Geräusch. Und dann weht sacht ein Murmeln wie von einem leisen Wind herein. Und die Luft wird leicht und leuchtet kaum wahrnehmbar. Hresh spürt: Es ist eine höhere Präsenz hereingekommen. Er meint, er sieht den hageren Zausel, den krummrückigen alten Thaggoran vor sich, mit seinen von Alter und Rheuma rotentzündeten Augen, und sein Pelz ist inzwischen reines Weiß.
»Du?« sagt Hresh. »Du bist hier, mein Alter?«
»Aber ja. Natürlich. Was gibt es denn, Kind?«
»Hilf mir«, bittet Hresh leise. »Nur noch dies eine letzte Mal.«
»Aber, Junge! Und ich hab immer geglaubt, du bestehst so fest darauf, alles immer nur nach deinem Kopf zu machen!«
»Jetzt nicht mehr. Wirklich. Hilf mir, Thaggoran!«
»Wenn du mich brauchst, aber sicher. Aber warte noch einen Augenblick. Schau da hinüber, Junge. Dort – an der Tür.«
Und wieder diese dröhnende, allumfassende Stille und die noch tiefere Lautlosigkeit, und jenseits des Türrahmens erneut im Dunkel eine sich graduell regende Geisthaftigkeit; und auch jetzt wieder das Wehen eines sanften Windes. Eine zweite Gestalt ist hereingekommen, ebenso verhutzelt, ebenso altersschütter, ja vielleicht sogar noch bröseliger. Es ist der zweite große Mentor aus Hreshs Jugend. Der Weise Mann und Schamane des Stammes der Behelmten. Noum om Beng, der Hresh in den Vengiboneezer Tagen befahl, ihn ‚Vater’ zu nennen. Der Hresh durch die Methode abwegiger Fragestellungen und plötzlicher unerwarteter Ohrfeigen zu tiefer Weisheitserkenntnis gebracht hat.
»Aha, du bist also auch gekommen, Vater?«
Die hagere Gestalt, zerbrechlich wie ein Wasserschreiter – wer anders könnte es sein als Noum om Beng? Er nickt Thaggoran zu, der ihn wie einen alten Weggefährten zurückgrüßt, obwohl sie einander im früheren Leben nie begegnet sind. Sie unterhalten sich flüsternd, wackeln mit den Köpfen und lächeln wissend vor sich hin, als hechelten sie ihren widerspenstigen Schüler Hresh durch und fragten einander: »Ja, was sollen wir nur mit ihm machen? Der Junge hat so vielversprechende Anlagen, aber manchmal ist er dermaßen vernagelt!«
Hresh lächelt. Für die beiden Alten würde er immer der aufmüpfige Schüler sein, obschon er selber bereits so altersangestaubt ist wie sie und aus seinem silbrig werdenden Pelz bald der letzte Hauch Farbe verschwunden sein wird.
»Also – warum hast du uns gerufen?« fragt Noum om Beng.
»Die Hjjks haben mir erneut meine Tochter entführt«, erklärt Hresh den zwei kaum sichtbaren Spektralgestalten, die nebeneinander im tiefen Schatten am anderen Ende des Raumes stehen. »Beim erstenmal haben sie sie nur einfach gekidnapped und fortgeschleppt. Damals konnte sie fliehen. Jetzt aber befürchte ich etwas viel Schrecklicheres. Jetzt haben sie ihre Seele gefangen.«
Die beiden schweigen, aber Hresh spürt ihre freundlich-wohlwollende Nähe. Sie trägt ihn, verleiht ihm Kraft.
»Ach, Thaggoran, und auch du, Vater, ich habe große Furcht. Und mein Herz ist betrübt und müde wie…«
»Quatsch!« Noum om Beng ist scharf und knapp wie ehemals.
»Ja, wirklich – Quatsch, mein Junge! Es stehen dir doch etliche Möglichkeiten offen«, tönt heiser wie raschelndes Gras Thaggorans Stimme. »Das weißt du doch! Hresh, die Schimmer-Steine. Jetzt ist endlich mal eine Gelegenheit, die Klunker mal auszuprobieren!«
»Die Edlen Steine? Aber…«
»Ja. Und dann den Barak Dayir«, flüstert dünn die Stimme Noum om Bengs. »Den mußt du auch ausprobieren.«
»Aber erst die Schimmersteine, die zuerst!«
»Ja,
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