Der neue Frühling
Gefäßen. Vielleicht zuviel Zeug. Aber es gelang ihr zum wartenden Wagen zu watscheln, ohne den Sack fallenzulassen.
Ihre Berg-Zelle lag fast ganz oben an der ‚Mueri-Weg’ genannten steilen Straße. Knapp hundert Schritt weiter oben lag das ‚Mueri-Haus’, und die Gasse, in der Kundalimon ermordet worden war, lag auf halbem Wege dazwischen.
Es erzürnte sie, daß ein Leben – noch dazu unschuldiges Leben - so nahe bei ihrem Heiligtum vernichtet worden war. Wie durfte es einer – und sei es ein Verrückter – wagen, den Ort der Heilung und des Heils zu besudeln mit der üblen Aura eines gewaltsamen Todes? An jedem Morgen seit dem Mord hatte sie eine ihrer Jungpriesterinnen an die Stelle gesandt, um dort das Reinigungsritual durchzuführen. Sie selbst war nicht hingegangen. Aber jetzt, als Maju Samlor die Zügel ergriff und das Xlendi auf die Straße hinausbog, wandte Boldirinthe den Kopf und blickte zu dem Ort des Verbrechens hinauf.
Dort schien sich eine Menschenmenge angesammelt zu haben. Sie sah dreißig, vierzig Leute, vielleicht mehr, die sich um den engen Zugang zu der Gasse drängten. Die Hineingehenden schleppten Netztaschen, prall voller Früchte, andere trugen Blumengarben oder ganze Arme voll grünen Blattwerks – von den Bäumen abgerissene Äste, wie es schien. Die anderen, die aus der Gasse heraustraten, kamen mit leeren Händen.
Stirnrunzelnd wandte sie sich Maju Samlor zu. »Was geht hier vor, weißt du es?«
»Sie bringen Opfergaben, Mutter.«
»Opfergaben?«
»Ja, Naturopfer. Belaubte Zweige, Früchte, Blüten und so. Für den Toten, weißt du, den Jungen von den Hjjks. Das geht jetzt schon seit zwei, drei Tagen so.«
»Sie legen Opfergaben an der Stelle nieder, an der er gestorben ist?« Wie seltsam. Ihre Priesterinnen hatten ihr davon nichts berichtet. »Bring mich hin, ich will mir das mal anschauen.«
»Aber die Häuptlingstochter…«
»… kann ein paar Minuten länger warten. Bring mich hin!«
Der Wachmann lenkte achselzuckend den Wagen herum und fuhr hinauf bis an die Einmündung des Gäßchens. Aus der Nähe erkannte Boldirinthe, daß nur wenige erwachsene Personen unter der Menge waren. Überwiegend waren hier Kinder, Jungen und Mädchen, manche von ihnen noch sehr klein, versammelt. Von ihrem Haltepunkt aus war es schwer, genauer zu sehen, was sich tat, aber sie wollte auch nicht aussteigen und die Sache direkt untersuchen. Immerhin sah sie soviel, daß in der Gasse jemand eine Art Altarschrein errichtet hatte. An der Spitze der Schlange der Opferträger waren Äste und grüne Zweige höher als mannshoch aufgetürmt, und sie waren mit Stoffstücken, glitzernden Metallstreifen und langen bunten Papierbändern geschmückt.
Lange blieb sie so sitzen und sah zu. Einige Kinder bemerkten sie, winkten und riefen sie beim Namen, und sie lächelte und erwiderte die Grüße. Aber sie stieg nicht aus.
»Möchtest du vielleicht aus der Nähe sehen?« fragte Maju Samlor. »Ich könnte dir raushelfen…«
»Ein andermal«, sagte Boldirinthe. »Fahr mich jetzt zu Nialli Apuilana!«
Der Gardist wendete und fuhr wieder hügelabwärts.
Also jetzt verehren sie ihn, dachte Boldirinthe kopfschüttelnd. Der da gestorben ist, wird von ihnen zum Gott gemacht. Jedenfalls sieht es danach aus. Wie seltsam. Alles ist überhaupt so höchst seltsam, alles, was irgendwie mit diesem jungen Mann zu tun hat.
Sie empfand es als ärgerlich und beunruhigend, daß sich derartige Dinge ereigneten. Daß es da auf einmal in diesem Gäßchen einen Votivaltar geben sollte und daß die Kinderchen Kundalimon Opfergaben darbringen sollten, als wäre er ein Gott… Das kam ihr unrichtig, ja sündhaft vor.
Aber vielleicht ist es ja gar nicht so ernst, beruhigte sie sich.
Sie dachte an all die antidoxen Ketzereien, die sie im Lauf ihres langen Lebens schon hatte aufkeimen sehen. Hatte auch nur einer dieser Irrglauben wirklichen Schaden angerichtet? Und man lebte in unsicheren Zeiten. Das Nahen des Jungen Frühlings hatte das VOLK aufgerüttelt und gezwungen, die engstirnig beschränkten Glaubenskonzepte aus den Zeiten des Kokons abzustreifen, einfach indem es dazu zwang, hinauszustreben und sich den unbekannten Rätseln einer größeren Welt zu stellen. Also war es doch überhaupt nicht verwunderlich, daß das VOLK nach neuen Heilslehren grapschte, sobald die altvertrauten keine sofortigen Resultate mehr brachten.
Manche von diesen Neuheiten waren recht kurzlebig gewesen. Wie etwa dieser merkwürdige Kult
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