Der neue Frühling
der Menschen-Anbetung, der während der letzten Tage von Vengiboneeza entstand und bei dem sich Grüppchen von Leuten aus dem einfacheren Volk heimlich trafen und um die Statue eines Menschlichen tanzten, die man irgendwo in der alten Stadt gefunden hatte und vor der sie dann Gebete und Opfer vollzogen. Aber zur Zeit der Zweiten Wanderung war dieser Aberglaube bereits wieder ausgestorben.
Andererseits hatte man die Verehrung des fremdstämmigen Gottes Nakhaba nach der Vereinigung mit den Bengs in das kultische Leben des Stammes einbezogen – und dies immerhin schien von Dauer zu sein. Und immer wieder waren andere neue Glaubensvorstellungen aufgetaucht und modisch geworden, solche, in deren Mittelpunkt die Gestirne standen, die Sonne, der große Ozean oder gar noch unwahrscheinlichere Sachen. Boldirinthe hatte sogar gerüchteweise flüstern hören, daß Nialli Apuilana eine Hjjk-Gläubige sein sollte und angeblich in ihrem Privatgemach im Hause Nakhaba irgendeinen heiligen Talisman der Hjjks aufbewahrte.
Na, und wenn schon, dachte Boldirinthe. Sie war zwar Priesterin, aber immerhin doch fromm und gläubig genug, um zu begreifen, daß Göttlichkeit in allen Dingen steckt. Die Himmlische Fünffaltigkeit war nicht unbedingt und zwangsläufig die einzige Form, in der sich ‚das Heilige’ ausprägen mußte. Sie war nichts weiter als der Götter-Clan, dem zu dienen sie nun eben geschworen hatte. Und sie waren auch nicht etwa die ‚wahren’ Götter und die anderen die ‚falschen’, sondern für sie waren sie eben die brauchbarsten und wirksamsten und mit einem Höchstmaß an Heiligkeit ausgestatteten Götter. Wenn darum also diese Kinder an einer Gedenkstätte für Kundalimon Gaben darbringen wollten, warum nicht? Gottesehrfurcht ist löblich, gleich in welcher Form.
»Beeil dich!« sagte sie zu ihrem Fahrer. »Kannst du das verdammte Xlendi da nicht zu etwas mehr Tempo bringen? Nialli Apuilana ist sehr geschwächt, weißt du. Sie braucht mich dringend.«
»Aber grade vorhin hast du doch gesagt…«
»Wenn du die Peitsche nicht benutzen willst, dann her damit. Glaubst du, ich traue mich nicht, sie zu benutzen? Schneller, Junge! Schneller!«
Nialli Apuilana lag auf einer Matratze in einem der oberen Gemächer der Häuptlingsresidenz. Sie lag mit geschlossenen Augen, und ihr Atem ging flach und langsam. Ihr Fell war stumpf und feucht-verklebt. Ab und zu murmelte sie unverständlich in sich hinein. Sie schien in einer Region jenseits des Bewußtseins umherzuirren, tiefer fort als im Schlaf, aber noch diesseits der Schwelle zum Tode. Boldirinthe erinnerte der Anblick an ein Erlebnis aus ihrer fernen frühen Jugend: Dieses merkwürdige Geschöpf – Hresh sagte, das sei ein Menschlicher gewesen –, den der Stamm den ‚Träume-Träumer’ genannt hatte, das jahrelang in tiefem endlosen Schlaf lag, nur um genau an dem Tag zu erwachen und zu sterben, als dem VOLK die Omina der Götter zuteil wurden, daß die Zeit des Auszugs gekommen war. Auch der Träumer hatte so schlafend gelegen, als befinde er sich mehr in einer jenseitigen als in dieser Welt.
Um die Lagerstatt Niallis geschart stand eine Gruppe bedrückter ernster Leute. Taniane war da, selbstverständlich, und sie sah so übermäßig angespannt und kraftlos aus, als müsse sie gleich zerbrechen. Auch Hresh, er schien in wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein. Und Husathirn Mueri und Tramassilu, der Juwelier, und Fashinatanda, die blinde, greisenhafte wackelige Mutter Tanianes; und der Baumeister Tisthali und der Getreidehändler Sturnak Khatilifon nebst seiner Gefährtin Sipulakinain, die krank war und nur noch ein ausgeglühtes Stück Schlacke ihres früheren Selbst – man konnte beinahe schon die Hand des Todes auf ihrer Schulter liegen sehen. Und noch andre Leute waren da, von denen die Opferfrau einige ganz und gar nicht unterbringen konnte.
Was eine solche Herde von Leuten in einem Krankenzimmer zu suchen haben sollte, überstieg Boldirinthes Begriffsvermögen. Zweifellos wollten sie allesamt helfen. Aber sie drängten sich alle viel zu dicht an das arme Kind heran, überhitzten die Luft und entzogen dem Raum Lebenskraft. Boldirinthe fuchtelte ungeduldig mit den Händen und verscheuchte die ganze Gesellschaft, bis auf Taniane und Sipulakinain, deren Anwesenheit gewissermaßen sinnvoll war. Auch die alte Fashinatanda duldete sie still in einem Winkel, denn sie schien sowieso nicht mehr zu begreifen, was geschah.
»Wo hat man sie gefunden?« fragte
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